Jetzt mußte die Fremde abreisen, denn sie hatte
kein Mittel mehr, sich zu bewegen. Das Heidi war wieder allein und kam
mit ihm auf die Weide, und am Abend und Morgen war es für ihn da, wenn
er kam, und alles war wieder in der alten Ordnung. Aber der Peter
bedachte nicht, wie es geht, wenn man eine böse Tat begangen hat, und
was dann nachher kommt.
Jetzt kam das Heidi aus der Hütte gesprungen und rannte dem Schopf zu.
Hinter ihm her kam der Großvater mit Klara auf dem Arm. Die Schopftür
stand weit offen, die beiden Bretter daneben waren weggestellt, bis in
den hintersten Winkel war es taghell. Das Heidi guckte hin und her,
lief um die Ecke, kam wieder zurück, die ungeheuerste Verwunderung lag
auf seinem Gesichte. Nun trat der Großvater heran.
»Was ist das? Hast du den Stuhl weggerollt, Heidi?« fragte er.
»Ich suche ihn ja allenthalben, Großvater, und du hast gesagt, er
stehe neben der Schopftür«, sagte das Kind, immer noch nach allen
Seiten mit den Augen herumsuchend.
Der Wind war unterdessen stärker geworden; eben klapperte er an der
Schopftür herum und warf sie auf einmal krachend gegen die Wand
zurück.
»Großvater, der Wind hat's gemacht«, rief das Heidi, und seine Augen
blitzten auf bei der Entdeckung. »Oh, wenn er den Stuhl bis ins Dörfli
hinabgejagt hätte, dann bekäme man ihn erst viel zu spät wieder, und
wir könnten gar nicht gehen.«
»Wenn er dort hinuntergerollt ist, so kommt er gar nicht mehr
zurück, dann ist er in hundert Stücken«, sagte der Großvater, um die
Ecke tretend und den Berg hinabschauend. »Aber kurios ist's doch
zugegangen«, setzte er hinzu, indem er auf das Stück zurücksah, das
der Stuhl erst um die Ecke der Hütte herum zu machen hatte.
»Oh, wie schade, jetzt können wir gar nicht gehen und vielleicht gar
nie«, jammerte Klara. »Nun muß ich gewiß heimgehen, wenn ich keinen
Stuhl mehr habe. Oh, wie schade! Wie schade!«
Aber das Heidi schaute ganz vertrauensvoll zu seinem Großvater auf und
sagte:
»Gelt, Großvater, du kannst schon etwas erfinden, daß es nicht so
geht, wie die Klara meint, und daß sie nicht auf einmal heim muß?«
»Jetzt gehen wir für diesmal auf die Weide, wie wir uns vorgenommen
haben; dann wollen wir sehen, was weiter kommt«, sagte der Großvater.
Die Kinder jubelten.
Er trat nun wieder in die Hütte zurück, holte einen guten Teil der
Tücher heraus, legte sie auf den sonnigsten Platz an die Hütte hin und
setzte Klara darauf. Dann holte er den Kindern ihre Morgenmilch und
führte Schwänli und Bärli vor den Stall hinaus.
»Warum der nur so lange nicht von da unten heraufkommt«, sagte der Öhi
vor sich hin, denn Peters Morgenpfiff war ja noch gar nicht ertönt.
Jetzt nahm der Großvater Klara wieder auf den einen Arm, die Tücher
auf den andern.
»So, nun vorwärts!« sagte er vorangehend; »die Geißen kommen mit uns.«
Das war dem Heidi eben recht. Einen Arm um Schwänlis und einen um
Bärlis Hals gelegt, wanderte das Heidi hinter dem Großvater her,
und die Geißen hatten solche Freude, einmal wieder mit dem Heidi
auszuziehen, daß sie es fast zusammendrückten zwischen sich vor lauter
Zärtlichkeit.
Oben auf dem Weideplatze angelangt, sahen die Kommenden mit einemmal
da und dort an den Abhängen die friedlich grasenden Geißen in Gruppen
stehen und mittendrin den Peter, der Länge nach auf dem Boden liegend.
»Ein andermal will ich dir das Vorbeigehen vertreiben, Schlafpelz, was
heißt das?« rief ihm der Öhi zu.
Der Peter war bei dem Ton der bekannten Stimme aufgeschossen.
»War noch niemand auf«, gab er zurück.
»Hast du etwas von dem Stuhl gesehen?« frug der Öhi wieder.
»Von welchem?« rief der Peter störrisch zurück.
Der Öhi sagte nichts mehr. Er breitete seine Tücher an den sonnigen
Abhang hin, setzte Klara darauf und wollte wissen, ob's ihr so bequem
sei.
»So bequem wie im Stuhl«, sagte sie dankend, »und am schönsten Platz
bin ich da. Da ist's so schön, Heidi, so schön!« rief sie, rings um
sich blickend, aus.
Der Großvater schickte sich zur Rückkehr an. Er sagte, sie sollten
sich's nun wohl sein lassen miteinander, und wenn die Zeit da sei,
sollte Heidi das Mittagsmahl herbeiholen, das er, in den Sack
verpackt, drüben in den Schatten gelegt hatte. Dann sollte der Peter
ihnen Milch dazu geben, soviel sie trinken wollten, aber das Heidi
sollte gut aufpassen, daß er sie vom Schwänli nehme. Gegen Abend
wollte der Großvater wiederkommen; jetzt wollte er vor allem dem
Stuhle nachgehen und sehen, was aus ihm geworden sei.
Der Himmel war dunkelblau, und um und um war nicht ein einziges
Wölkchen zu sehen. Auf dem großen Schneefelde drüben blitzte es
wie von tausend und tausend Gold- und Silbersternen. Die grauen
Felsenhörner standen hoch und fest an ihrem Platze, wie vor alter
Zeit, und schauten ernsthaft ins Tal hinab. Der große Vogel wiegte
sich oben im Blau, und über die Höhen strich der Bergwind hin
und wehte kühl rings um die sonnige Alp. Den Kindern war es
unbeschreiblich wohl. Von Zeit zu Zeit kam ein Geißlein heran und
ließ sich ein wenig nieder bei ihnen; am häufigsten kam das zärtliche
Schneehöppli und legte sein Köpfchen an das Heidi heran und wäre da
wohl gar nicht mehr weggegangen, hätte es nicht ein anderes von der
Herde wieder vertrieben. So lernte Klara jetzt eine um die andere von
den Geißen so nahe kennen, daß sie niemals mehr eine mit der andern
verwechselte, denn jede hatte ja auch ein ganz besonderes Gesicht und
ihre eigene Art.
Sie wurden jetzt auch so zutraulich zu Klara, daß sie ihr ganz nahe
kamen und ihre Köpfe an ihren Schultern rieben; das war immer das
Zeichen ihrer nahen Bekanntschaft und Zuneigung.
So waren schon einige Stunden vergangen; da kam es dem Heidi in den
Sinn, wenn es doch einmal hinübergehen könnte an den Platz, wo die
vielen Blumen waren, und sehen, ob sie auch alle offenstehen und
so schön seien wie vor dem Jahr. Erst am Abend, wenn der Großvater
wiederkam, konnte man auch mit Klara hinübergehen, und dann machten
die Blumen vielleicht schon wieder die Augen zu. Das Verlangen stieg
immer höher im Heidi, es konnte nicht mehr widerstehen.
Ein wenig zaghaft fragte es: »Wirst du nicht böse, Klara, wenn ich
geschwind von dir fortlaufe und du allein sein mußt? Ich möchte so
gern sehen, wie die Blumen sind. Aber warte…« Dem Heidi war ein
Gedanke gekommen. Es sprang auf die Seite und riß ein paar schöne
Büschel von den grünen Kräutern aus. Dann nahm es das Schneehöppli um
den Hals, das ihm gleich zugelaufen war, und führte es der Klara zu.
»So, jetzt mußt du doch nicht allein sein«, sagte das Heidi, indem es
auf seinen Platz neben Klara das Schneehöppli ein wenig hindrückte,
was das Geißlein gleich gut verstand und sich niederlegte. Dann warf
Heidi seine Blätter der Klara in den Schoß, und diese sagte erfreut,
das Heidi solle jetzt nur gehen und die Blumen recht ansehen, sie
wolle gern allein mit dem Geißlein bleiben; das hatte sie ja noch gar
nie erlebt. Das Heidi rannte fort, und Klara fing nun an, Blättchen
für Blättchen dem Schneehöppli hinzuhalten, und dieses wurde so
zutraulich, daß es sich ganz an seine neue Freundin anschmiegte und
die Blättchen ihr langsam aus den Fingern fraß.
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