Dann sollte der Peter
ihnen Milch dazu geben, soviel sie trinken wollten, aber das Heidi
sollte gut aufpassen, daß er sie vom Schwänli nehme. Gegen Abend
wollte der Großvater wiederkommen; jetzt wollte er vor allem dem
Stuhle nachgehen und sehen, was aus ihm geworden sei.
Der Himmel war dunkelblau, und um und um war nicht ein einziges
Wölkchen zu sehen. Auf dem großen Schneefelde drüben blitzte es
wie von tausend und tausend Gold- und Silbersternen. Die grauen
Felsenhörner standen hoch und fest an ihrem Platze, wie vor alter
Zeit, und schauten ernsthaft ins Tal hinab. Der große Vogel wiegte
sich oben im Blau, und über die Höhen strich der Bergwind hin
und wehte kühl rings um die sonnige Alp. Den Kindern war es
unbeschreiblich wohl. Von Zeit zu Zeit kam ein Geißlein heran und
ließ sich ein wenig nieder bei ihnen; am häufigsten kam das zärtliche
Schneehöppli und legte sein Köpfchen an das Heidi heran und wäre da
wohl gar nicht mehr weggegangen, hätte es nicht ein anderes von der
Herde wieder vertrieben. So lernte Klara jetzt eine um die andere von
den Geißen so nahe kennen, daß sie niemals mehr eine mit der andern
verwechselte, denn jede hatte ja auch ein ganz besonderes Gesicht und
ihre eigene Art.
Sie wurden jetzt auch so zutraulich zu Klara, daß sie ihr ganz nahe
kamen und ihre Köpfe an ihren Schultern rieben; das war immer das
Zeichen ihrer nahen Bekanntschaft und Zuneigung.
So waren schon einige Stunden vergangen; da kam es dem Heidi in den
Sinn, wenn es doch einmal hinübergehen könnte an den Platz, wo die
vielen Blumen waren, und sehen, ob sie auch alle offenstehen und
so schön seien wie vor dem Jahr. Erst am Abend, wenn der Großvater
wiederkam, konnte man auch mit Klara hinübergehen, und dann machten
die Blumen vielleicht schon wieder die Augen zu. Das Verlangen stieg
immer höher im Heidi, es konnte nicht mehr widerstehen.
Ein wenig zaghaft fragte es: »Wirst du nicht böse, Klara, wenn ich
geschwind von dir fortlaufe und du allein sein mußt? Ich möchte so
gern sehen, wie die Blumen sind. Aber warte…« Dem Heidi war ein
Gedanke gekommen. Es sprang auf die Seite und riß ein paar schöne
Büschel von den grünen Kräutern aus. Dann nahm es das Schneehöppli um
den Hals, das ihm gleich zugelaufen war, und führte es der Klara zu.
»So, jetzt mußt du doch nicht allein sein«, sagte das Heidi, indem es
auf seinen Platz neben Klara das Schneehöppli ein wenig hindrückte,
was das Geißlein gleich gut verstand und sich niederlegte. Dann warf
Heidi seine Blätter der Klara in den Schoß, und diese sagte erfreut,
das Heidi solle jetzt nur gehen und die Blumen recht ansehen, sie
wolle gern allein mit dem Geißlein bleiben; das hatte sie ja noch gar
nie erlebt. Das Heidi rannte fort, und Klara fing nun an, Blättchen
für Blättchen dem Schneehöppli hinzuhalten, und dieses wurde so
zutraulich, daß es sich ganz an seine neue Freundin anschmiegte und
die Blättchen ihr langsam aus den Fingern fraß. Man konnte auch gut
sehen, wie wohl es ihm war, daß es da so ruhig und friedlich in gutem
Schutze liegen durfte, denn draußen bei der Herde hatte es immer viele
Verfolgungen auszustehen von den großen und starken Geißen. Der Klara
kam es so köstlich vor, so ganz allein auf einem Berge zu sitzen,
nur mit einem zutraulichen Geißlein, das ganz hilfsbedürftig zu ihr
aufsah. Ein großer Wunsch stieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener
Herr zu sein und einem andern helfen zu können und nicht nur immer
sich von allen anderen helfen lassen zu müssen. Und es kamen der
Klara jetzt so viele Gedanken, die sie gar nie gehabt hatte, und eine
unbekannte Lust, fortzuleben in dem schönen Sonnenschein und etwas
zu tun, mit dem sie jemand erfreuen konnte, wie sie jetzt das
Schneehöppli erfreute. Eine ganz neue Freude kam ihr ins Herz, so als
ob alles, was sie wußte und kannte, auf einmal viel schöner und anders
sein könnte, als sie es bis jetzt gesehen hatte, und es wurde ihr so
schön und wohl zumute, daß sie das Geißlein um den Hals nehmen und
ausrufen mußte: »O Schneehöppli, wie schön ist es hier oben; wenn ich
nur immer da bei euch bleiben könnte!«
Das Heidi war unterdessen an dem Blumenplatze angekommen. Es stieß
einen Freudenschrei aus. Von leuchtendem Golde bedeckt lag die ganze
Halde da. Das waren die schimmernden Ziströschen. Dichte, dunkelblaue
Büsche von Glockenblumen wiegten sich darüber, und ein so starker
gewürziger Duft wogte um die sonnige Halde, als wären die köstlichsten
Balsamschalen da oben ausgeschüttet worden. Der ganze Wohlgeruch
kam aber von den kleinen braunen Kolbenblümchen her, die ihre
runden Köpfchen da und dort bescheiden zwischen den Goldkelchen
emporstreckten. Das Heidi stand und schaute und zog den süßen Duft
in langen Zügen ein. Auf einmal kehrte es um und kam außer Atem vor
Erregung zu Klara zurück.
»Oh, du mußt gewiß kommen«, rief es ihr schon von weitem zu. »Sie sind
so schön, und alles ist so schön, und am Abend ist es vielleicht nicht
mehr so. Ich kann dich vielleicht tragen, meinst du nicht?«
Klara schaute das erregte Heidi mit Verwunderung an; sie schüttelte
aber den Kopf.
»Nein, nein, was denkst du, Heidi; du bist ja viel kleiner als ich.
Oh, wenn ich nur gehen könnte!«
Jetzt schaute das Heidi suchend um sich, es mußte etwas Neues im Sinne
haben. Dort oben, wo der Peter vorher auf dem Boden gelegen hatte, saß
er jetzt und starrte auf die Kinder herunter.
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