So hatte er schon seit
Stunden gesessen und immerzu herabgestarrt, so als könne er nicht
fassen, was er vor sich sah. Er hatte den feindlichen Stuhl zerstört,
damit alles aufhören und die Fremde sich gar nicht mehr bewegen könne,
und eine kurze Weile nachher erschien sie da oben und saß vor ihm auf
dem Boden neben dem Heidi. Das konnte ja nicht sein, und doch war es
immer noch so, er konnte hinsehen, wann er wollte.
Jetzt schaute das Heidi zu ihm auf.
»Komm hier herunter, Peter!« rief es sehr bestimmt.
»Komme nicht«, rief er zurück.
»Doch, du mußt; komm, ich kann es nicht allein machen, du mußt mir
helfen; komm schnell!« drängte das Heidi.
»Komme nicht«, ertönte es wieder.
Jetzt sprang das Heidi eine kleine Strecke den Berg hinan, dem
Angeredeten entgegen.
Da stand es mit flammenden Augen und rief hinauf:
»Peter, wenn du nicht auf der Stelle kommst, so will ich dir auch
etwas machen, das du dann gewiß nicht gern hast; das kannst du
glauben!«
Diese Worte gaben dem Peter einen Stich, und eine große Angst packte
ihn an. Er hatte etwas Böses getan, das kein Mensch wissen sollte. Bis
jetzt hatte es ihn gefreut, aber nun redete das Heidi, wie wenn es
alles wüßte, und was es wußte, sagte es alles seinem Großvater, und
vor dem fürchtete der Peter sich ja wie vor keinem andern. Wenn er
nun vernähme, was mit dem Stuhl vorgegangen war! Den Peter würgte die
Angst immer ärger. Er stand auf und kam dem wartenden Heidi entgegen.
»Ich komme, aber dann mußt du das nicht machen«, sagte er, so zahm vor
Furcht, daß das Heidi ganz mitleidig wurde.
»Nein, nein, das tu ich nun schon nicht«, versicherte es. »Komm jetzt
nur mit mir, es ist nichts zum Fürchten, was du tun mußt.«
Bei Klara angelangt, ordnete nun das Heidi an, auf der einen Seite
sollte der Peter, auf der andern wollte es selbst Klara fest unter den
Arm fassen und aufheben. Das ging nun ziemlich gut, aber jetzt kam das
Schwierigere. Klara konnte ja nicht stehen, wie sollte man sie nun
festhalten und vorwärts bringen? Das Heidi war zu klein, um ihr mit
seinem Arm eine Stütze zu bieten.
»Du mußt mich jetzt um den Hals nehmen, ganz fest, so. Und den Peter
mußt du am Arm nehmen und ganz fest darauf drücken, dann können wir
dich tragen.«
Aber der Peter hatte noch nie jemandem den Arm gegeben. Klara umfaßte
diesen wohl, der Peter aber hielt ihn ganz steif am Leibe herunter wie
einen langen Stecken.
»So macht man es nicht, Peter«, sagte das Heidi sehr bestimmt. »Du
mußt mit dem Arm einen Ring machen, und dann muß die Klara mit dem
ihrigen durchfahren, und dann muß sie ganz fest aufdrücken, und du
mußt um keinen Preis nachgeben, dann kommen wir schon vorwärts.«
Das wurde nun so ausgeführt. Man kam aber nicht gut vorwärts. Klara
war nicht so leicht, und das Gespann zu ungleich in der Größe. Auf
der einen Seite ging es herab und auf der andern hinauf, das gab eine
ziemliche Unsicherheit in den Stützen.
Klara probierte es abwechselnd ein wenig mit den eigenen Füßen, zog
aber einen nach dem andern immer bald wieder zurück.
»Stampf einmal recht herunter«, schlug das Heidi vor, »dann tut es dir
gewiß nachher weniger weh.«
»Meinst du?« sagte Klara zaghaft.
Sie gehorchte aber und wagte einen festen Schritt auf den Boden und
dann mit dem zweiten Fuß; sie schrie aber ein wenig auf dabei. Dann
hob sie den einen wieder und setzte ihn leiser hin.
»Oh, das hat schon viel weniger weh getan«, sagte sie voller Freude.
»Mach's noch einmal«, drängte eifrig das Heidi. Klara tat es und dann
noch einmal und noch einmal, und auf einmal schrie sie auf:
»Ich kann, Heidi! Oh, ich kann! Sieh! Sieh! Ich kann Schritte machen,
einen nach dem andern.«
Jetzt jauchzte das Heidi noch viel mehr auf.
»Oh! Oh! Kannst du gewiß selbst Schritte machen? Kannst du jetzt
gehen? Kannst du gewiß selbst gehen? Oh, wenn nur der Großvater käme!
Jetzt kannst du selbst gehen, Klara, jetzt kannst du gehen!« rief es
ein Mal ums andere in jubelnder Freude aus.
Klara hielt sich wohl fest an auf beiden Seiten, aber mit jedem
Schritt wurde sie ein wenig sicherer, das konnten alle drei empfinden.
Das Heidi kam ganz außer sich vor Freude.
»Oh, nun können wir alle Tage miteinander auf die Weide gehen und auf
der Alp herum, wo wir wollen«, rief es wieder aus, »und du kannst dein
Lebtag gehen, wie ich, und mußt nie mehr im Stuhl gestoßen werden und
wirst gesund. Oh, das ist die größte Freude, die wir haben können!«
Klara stimmte mit dem ganzen Herzen ein. Gewiß kannte sie gar kein
größeres Glück auf der Welt, als auch einmal gesund zu sein und
herumgehen zu können wie die anderen Menschen und nicht mehr elend die
ganzen Tage lang in den Krankensessel gebannt zu sein.
Es war nicht weit zu der Blumenhalde hinüber. Dort sah man schon das
Glitzern der Goldröschen in der Sonne. Jetzt waren sie bei den Büschen
der blauen Glockenblumen angekommen, wo zwischendurch der sonnige
Boden so einladend aussah.
»Können wir nicht hier niedersetzen?« fragte Klara.
Das war ganz nach Heidis Wunsch, und mitten in die Blumen hinein
setzten sich die Kinder, Klara zum erstenmal, auf den trockenen,
warmen Alpenboden hin; das gefiel ihr unbeschreiblich wohl. Und nun
rings um sie die wiegenden blauen Glockenblumen, die schimmernden
Goldröschen, das rote Tausendgüldenkraut und um und um der süße Duft
der braunen Kolbenblümchen, der würzigen Prünellen. Alles war so
schön! So schön!
Auch das Heidi neben ihr meinte, so schön sei es noch nie gewesen da
oben, und es wußte gar nicht, warum es eine solche Freude im Herzen
hatte, daß es nur immer hätte laut jauchzen mögen. Aber auf einmal kam
es ihm dann wieder in den Sinn, daß Klara gesund geworden war; das war
zu allem Schönen ringsumher noch die allergrößte Freude. Klara wurde
ganz still vor Wonne und Entzücken über alles, was sie sah, und über
alle die Aussichten, die ihr aufgegangen waren durch das eben Erlebte.
Das große Glück hatte fast nicht Platz in ihrem Herzen, und der
Sonnenglanz und Blumenduft dazu überwältigten sie mit einem
Wonnegefühl, das sie völlig verstummen machte.
Auch der Peter lag still und regungslos mitten in dem Blumenfelde,
denn er war fest eingeschlafen.
Leise und lieblich wehte hier der Wind hinter den schützenden Felsen
hervor und säuselte oben in den Büschen. Von Zeit zu Zeit mußte das
Heidi wieder aufstehen und dahin laufen und dorthin, denn es war immer
irgendwo noch schöner, die Blumen noch dichter, der Wohlgeruch noch
stärker, weil ihn da der Wind hin und her wehte; überall mußte es
wieder hinsetzen.
So vergingen die Stunden.
Die Sonne war längst über den Mittag hinaus, als ein Trüppchen der
Geißen ganz ernsthaft auf die Blumenhalde zugeschritten kam. Es war
nicht ihr Weideplatz, sie wurden nie dahin geführt, denn es gefiel
ihnen nicht, in den Blumen zu grasen. Sie sahen aus wie eine
Gesandtschaft, der Distelfink voran. Die Geißen waren sichtlich
ausgegangen, ihre Gesellschafter zu suchen, die sie so lange im Stich
gelassen hatten und über alle Ordnung hinaus fortgeblieben waren,
denn die Geißen kannten ihre Zeit wohl.
1 comment