Man konnte auch gut
sehen, wie wohl es ihm war, daß es da so ruhig und friedlich in gutem
Schutze liegen durfte, denn draußen bei der Herde hatte es immer viele
Verfolgungen auszustehen von den großen und starken Geißen. Der Klara
kam es so köstlich vor, so ganz allein auf einem Berge zu sitzen,
nur mit einem zutraulichen Geißlein, das ganz hilfsbedürftig zu ihr
aufsah. Ein großer Wunsch stieg auf in ihr, auch einmal ihr eigener
Herr zu sein und einem andern helfen zu können und nicht nur immer
sich von allen anderen helfen lassen zu müssen. Und es kamen der
Klara jetzt so viele Gedanken, die sie gar nie gehabt hatte, und eine
unbekannte Lust, fortzuleben in dem schönen Sonnenschein und etwas
zu tun, mit dem sie jemand erfreuen konnte, wie sie jetzt das
Schneehöppli erfreute. Eine ganz neue Freude kam ihr ins Herz, so als
ob alles, was sie wußte und kannte, auf einmal viel schöner und anders
sein könnte, als sie es bis jetzt gesehen hatte, und es wurde ihr so
schön und wohl zumute, daß sie das Geißlein um den Hals nehmen und
ausrufen mußte: »O Schneehöppli, wie schön ist es hier oben; wenn ich
nur immer da bei euch bleiben könnte!«
Das Heidi war unterdessen an dem Blumenplatze angekommen. Es stieß
einen Freudenschrei aus. Von leuchtendem Golde bedeckt lag die ganze
Halde da. Das waren die schimmernden Ziströschen. Dichte, dunkelblaue
Büsche von Glockenblumen wiegten sich darüber, und ein so starker
gewürziger Duft wogte um die sonnige Halde, als wären die köstlichsten
Balsamschalen da oben ausgeschüttet worden. Der ganze Wohlgeruch
kam aber von den kleinen braunen Kolbenblümchen her, die ihre
runden Köpfchen da und dort bescheiden zwischen den Goldkelchen
emporstreckten. Das Heidi stand und schaute und zog den süßen Duft
in langen Zügen ein. Auf einmal kehrte es um und kam außer Atem vor
Erregung zu Klara zurück.
»Oh, du mußt gewiß kommen«, rief es ihr schon von weitem zu. »Sie sind
so schön, und alles ist so schön, und am Abend ist es vielleicht nicht
mehr so. Ich kann dich vielleicht tragen, meinst du nicht?«
Klara schaute das erregte Heidi mit Verwunderung an; sie schüttelte
aber den Kopf.
»Nein, nein, was denkst du, Heidi; du bist ja viel kleiner als ich.
Oh, wenn ich nur gehen könnte!«
Jetzt schaute das Heidi suchend um sich, es mußte etwas Neues im Sinne
haben. Dort oben, wo der Peter vorher auf dem Boden gelegen hatte, saß
er jetzt und starrte auf die Kinder herunter. So hatte er schon seit
Stunden gesessen und immerzu herabgestarrt, so als könne er nicht
fassen, was er vor sich sah. Er hatte den feindlichen Stuhl zerstört,
damit alles aufhören und die Fremde sich gar nicht mehr bewegen könne,
und eine kurze Weile nachher erschien sie da oben und saß vor ihm auf
dem Boden neben dem Heidi. Das konnte ja nicht sein, und doch war es
immer noch so, er konnte hinsehen, wann er wollte.
Jetzt schaute das Heidi zu ihm auf.
»Komm hier herunter, Peter!« rief es sehr bestimmt.
»Komme nicht«, rief er zurück.
»Doch, du mußt; komm, ich kann es nicht allein machen, du mußt mir
helfen; komm schnell!« drängte das Heidi.
»Komme nicht«, ertönte es wieder.
Jetzt sprang das Heidi eine kleine Strecke den Berg hinan, dem
Angeredeten entgegen.
Da stand es mit flammenden Augen und rief hinauf:
»Peter, wenn du nicht auf der Stelle kommst, so will ich dir auch
etwas machen, das du dann gewiß nicht gern hast; das kannst du
glauben!«
Diese Worte gaben dem Peter einen Stich, und eine große Angst packte
ihn an. Er hatte etwas Böses getan, das kein Mensch wissen sollte. Bis
jetzt hatte es ihn gefreut, aber nun redete das Heidi, wie wenn es
alles wüßte, und was es wußte, sagte es alles seinem Großvater, und
vor dem fürchtete der Peter sich ja wie vor keinem andern. Wenn er
nun vernähme, was mit dem Stuhl vorgegangen war! Den Peter würgte die
Angst immer ärger. Er stand auf und kam dem wartenden Heidi entgegen.
»Ich komme, aber dann mußt du das nicht machen«, sagte er, so zahm vor
Furcht, daß das Heidi ganz mitleidig wurde.
»Nein, nein, das tu ich nun schon nicht«, versicherte es. »Komm jetzt
nur mit mir, es ist nichts zum Fürchten, was du tun mußt.«
Bei Klara angelangt, ordnete nun das Heidi an, auf der einen Seite
sollte der Peter, auf der andern wollte es selbst Klara fest unter den
Arm fassen und aufheben. Das ging nun ziemlich gut, aber jetzt kam das
Schwierigere. Klara konnte ja nicht stehen, wie sollte man sie nun
festhalten und vorwärts bringen? Das Heidi war zu klein, um ihr mit
seinem Arm eine Stütze zu bieten.
»Du mußt mich jetzt um den Hals nehmen, ganz fest, so. Und den Peter
mußt du am Arm nehmen und ganz fest darauf drücken, dann können wir
dich tragen.«
Aber der Peter hatte noch nie jemandem den Arm gegeben. Klara umfaßte
diesen wohl, der Peter aber hielt ihn ganz steif am Leibe herunter wie
einen langen Stecken.
»So macht man es nicht, Peter«, sagte das Heidi sehr bestimmt. »Du
mußt mit dem Arm einen Ring machen, und dann muß die Klara mit dem
ihrigen durchfahren, und dann muß sie ganz fest aufdrücken, und du
mußt um keinen Preis nachgeben, dann kommen wir schon vorwärts.«
Das wurde nun so ausgeführt. Man kam aber nicht gut vorwärts. Klara
war nicht so leicht, und das Gespann zu ungleich in der Größe.
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