Plötzlich
tat er einen Sprung und schaute hinter sich, so erschreckt, als habe
ihn eben einer im Genick gepackt. Hinter jedem Busch hervor, aus jeder
Hecke heraus meinte jetzt der Peter den Polizeidiener aus Frankfurt
auf sich losstürzen zu sehen. Je länger aber diese gespannte Erwartung
dauerte, je schreckhafter wurde es dem Peter zumute, er hatte keinen
ruhigen Augenblick mehr.
Nun mußte das Heidi seine Hütte aufräumen, denn die Großmama sollte
doch alles in guter Ordnung finden, wenn sie kam. Klara fand dieses
geschäftige Treiben Heidis in allen Ecken der Hütte herum immer so
kurzweilig, daß sie mit Vorliebe dieser Tätigkeit zuschaute.
So vergingen die frühen Morgenstunden den Kindern unversehens, und
schon konnte man der Ankunft der Großmama entgegensehen.
Jetzt kamen die Kinder bereit und zum Empfange gerüstet wieder heraus
und setzten sich nebeneinander auf die Bank vor die Hütte, in voller
Erwartung auf die kommenden Ereignisse.
Auch der Großvater trat jetzt wieder zu ihnen. Er hatte einen
Gang gemacht und hatte einen großen Strauß dunkelblauer Enzianen
mitgebracht, die leuchteten so schön in der hellen Morgensonne, daß
die Kinder aufjauchzten bei dem Anblick. Der Großvater trug sie in
die Hütte hinein. Von Zeit zu Zeit sprang das Heidi von der Bank, um
auszuspähen, ob von dem Zuge der Großmama noch nichts zu entdecken
sei.
Aber jetzt: Da kam es von unten herauf, gerade so, wie das Heidi es
erwartet hatte. Voran stieg der Führer, dann kam das weiße Roß und die
Großmama darauf, und zuletzt kam der Träger mit dem hohen Reff, denn
ohne reichlich Schutzmittel zog die Großmama nun einmal nicht auf die
Alp.
Näher und näher kam der Zug. Jetzt war die Höhe erreicht; die Großmama
erblickte die Kinder von ihrem Pferde herunter.
»Was ist denn das? Was seh ich, Klärchen? Du sitzest nicht in deinem
Sessel! Wie ist das möglich?« rief sie erschrocken aus und stieg nun
eilig herunter. Bevor sie aber noch bei den Kindern angekommen war,
schlug sie die Hände zusammen und rief in der höchsten Aufregung:
»Klärchen, bist du's, oder bist du's nicht? Du hast ja rote Wangen,
kugelrunde! Kind! Ich kenne dich nicht mehr!« Jetzt wollte die
Großmama auf Klara losstürzen. Aber unversehens war das Heidi von der
Bank geglitten, Klara hatte sich schnell auf seine Schultern gestützt,
und fort wanderten die Kinder, ganz gelassen einen kleinen Spaziergang
machend. Die Großmama war plötzlich stillgestanden, erst vor
Schrecken, sie meinte nicht anders, als das Heidi stelle eben etwas
Unerhörtes an.
Aber was sah sie vor sich!
Aufrecht und sicher ging Klara neben dem Heidi her; jetzt kamen sie
wieder zurück, beide mit strahlenden Gesichtern, beide mit rosenroten
Backen.
Jetzt stürzte die Großmama ihnen entgegen. Lachend und weinend umarmte
sie ihr Klärchen, dann das Heidi, dann wieder Klara. Vor Freude fand
die Großmama gar keine Worte.
Auf einmal fiel ihr Blick auf den Öhi, der bei der Bank stand und
mit behaglichem Lächeln nach den dreien herüberschaute. Jetzt faßte
die Großmama Klaras Arm in den ihrigen und wanderte mit ihr unter
immerwährenden Ausrufungen des Entzückens, daß es ja wirklich so sei,
daß sie umherwandern könne mit dem Kinde, der Bank zu. Hier ließ sie
Klara los und ergriff den Alten bei beiden Händen.
»Mein lieber Öhi! Mein lieber Öhi! Was haben wir Ihnen zu danken! Es
ist Ihr Werk! Es ist Ihre Sorge und Pflege…«
»Und unseres Herrgotts Sonnenschein und Almluft«, fiel der Öhi
lächelnd ein.
»Ja, und Schwänlis gute, schöne Milch gewiß auch«, rief nun Klara
ihrerseits. »Großmama, du solltest nur wissen, wie ich die Geißenmilch
trinken kann und wie gut sie ist!«
»Ja, das kann ich an deinen Backen sehen, Klärchen«, sagte jetzt die
Großmama lachend. »Nein, dich kennt man nicht mehr; rund, breit bist
du ja geworden, wie ich nie geahnt, daß du je werden könntest, und
groß bist du, Klärchen! Nein, ist es denn auch wahr? Ich kann dich ja
nicht genug ansehen! Aber nun muß auf der Stelle telegrafiert werden
an meinen Sohn in Paris, er muß sogleich kommen. Ich sag ihm nicht,
warum, das ist die größte Freude seines Lebens. Mein lieber Öhi, wie
machen wir das? Sie haben wohl die Männer schon entlassen?«
»Die sind fort«, antwortete er, »aber wenn's der Frau Großmama
pressiert, so läßt man den Geißenhüter herunterkommen, der hat Zeit.«
Die Großmama bestand darauf, sofort ihrem Sohne eine Depesche zu
schicken, denn dieses Glück sollte ihm keinen Tag vorenthalten
bleiben.
Nun ging der Öhi ein wenig auf die Seite, und hier tat er einen so
durchdringenden Pfiff durch seine Finger, daß es hoch oben von den
Felsen zurückpfiff, so weit weg hatte er das Echo geweckt. Es währte
gar nicht lange, so kam der Peter heruntergerannt, er kannte den Pfiff
wohl. Der Peter war kreideweiß, denn er dachte, der Almöhi rufe ihn
zum Gericht. Es wurde ihm aber nur ein Papier übergeben, das die
Großmama unterdessen überschrieben hatte, und der Öhi erklärte ihm, er
habe das Papier sofort ins Dörfli hinunterzutragen und auf dem Postamt
abzugeben, die Bezahlung werde der Öhi später selbst in Ordnung
bringen, denn so viele Dinge auf einmal konnte man dem Peter nicht
übertragen.
Dieser ging nun mit seinem Papier in der Hand, für diesmal wieder
erleichtert, davon, denn der Öhi hatte ja nicht zum Gericht gepfiffen,
es war kein Polizeidiener angekommen.
Endlich konnte man sich denn fest und ruhig zusammen um den Tisch vor
der Hütte herumsetzen, und nun mußte der Großmama erzählt werden, wie
von Anfang an alles sich zugetragen hatte. Wie zuerst der Großvater
jeden Tag ein wenig das Stehen und dann ein Schrittchen mit Klara
probiert hatte, wie dann die Reise auf die Weide gekommen war und
der Wind den Rollstuhl fortgejagt hatte. Wie Klara vor Begierde nach
den Blumen den ersten Gang machen konnte und so eins aus dem andern
gekommen war. Aber es währte lange, bis diese Erzählung von den
Kindern zu Ende gebracht wurde, denn zwischendurch mußte die Großmama
immer wieder in Verwunderung und in Lob und Dank ausbrechen, und immer
wieder rief sie aus: »Aber ist es denn auch möglich! Ist es denn auch
wirklich kein Traum? Sind wir denn auch alle wach, und sitzen wir hier
vor der Almhütte, und das Mädchen vor mir mit dem runden, frischen
Gesicht ist mein altes, bleiches, kraftloses Klärchen?«
Und Klara und Heidi hatten immer neue Freude, daß ihre schön
ausgedachte Überraschung so gut gelungen war bei der Großmama und
immer noch fortwirkte.
Herr Sesemann hatte unterdessen seine Geschäfte in Paris beendet, und
auch er hatte vor, eine Überraschung zu bereiten. Ohne ein Wort an
seine Mutter zu schreiben, setzte er sich an einem der sonnigen
Sommermorgen auf die Eisenbahn und fuhr in einem Zuge bis nach Basel,
von wo er in aller Frühe des folgenden Tages gleich wieder aufbrach,
denn es hatte ihn ein großes Verlangen ergriffen, einmal wieder sein
Töchterchen zu sehen, von dem er nun den ganzen Sommer durch getrennt
gewesen war. Im Bade Ragaz kam er einige Stunden nach der Abfahrt
seiner Mutter an.
Die Nachricht, daß sie eben heute die Reise nach der Alp unternommen
habe, kam ihm gerade recht. Sofort setzte er sich in einen Wagen und
fuhr nach Maienfeld hinüber. Als er da hörte, daß er auch noch bis zum
Dörfli hinauffahren könne, tat er dies, denn er dachte, die Fußpartie
den Berg hinauf werde ihm immer noch lang genug werden.
Herr Sesemann hatte sich nicht getäuscht; die unausgesetzte Steigung
die Alp hinan kam ihm sehr lang und beschwerlich vor.
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