Noch immer war
keine Hütte in Sicht, und er wußte doch, daß auf halbem Wege er auf
die Wohnung des Geißenpeter stoßen sollte, denn oftmals hatte er die
Beschreibung dieses Weges vernommen.
Es waren überall Spuren von Fußgängern zu sehen, manchmal gingen die
schmalen Wege nach allen Richtungen hin. Herr Sesemann wurde unsicher,
ob er auch auf dem richtigen Pfade sei oder ob vielleicht die Hütte
auf einer andern Seite der Alp liege. Er sah sich um, ob kein
menschliches Wesen zu entdecken sei, das er um den Weg befragen
könnte. Aber es war still ringsum, weit und breit war nichts zu sehen
noch zu hören. Nur der Bergwind sauste dann und wann durch die Luft,
und im sonnigen Blau summten die kleinen Mücken, und ein lustiges
Vögelein pfiff da und dort auf einem einsamen Lärchenbäumchen. Herr
Sesemann stand eine Weile still und ließ sich die heiße Stirne vom
Alpenwinde kühlen.
Jetzt kam jemand von oben heruntergelaufen; es war der Peter mit
seiner Depesche in der Hand. Er lief gradaus, steil herunter, nicht
auf dem Fußwege, auf dem Herr Sesemann stand. Sobald der Läufer aber
nahe genug war, winkte ihm Herr Sesemann, daß er herüberkommen sollte.
Zögernd und scheu kam der Peter heran, seitwärts, nicht gradaus, und
so, als könne er nur mit dem einen Fuß richtig vorankommen und müsse
den andern nachschleppen.
»Na, Junge, frisch heran!« ermunterte Herr Sesemann.
»Jetzt sag mir mal, komme ich auf diesem Wege zu der Hütte hinauf,
wo der alte Mann mit dem Kinde Heidi wohnt, bei dem die Leute aus
Frankfurt sind?«
Ein dumpfer Ton furchtbarsten Schreckens war die Antwort, und so
maßlos schoß der Peter davon, daß er kopfüber und über die steile
Halde hinabstürzte und fortrollte in unwillkürlichen Purzelbäumen,
immer weiter und weiter, ganz ähnlich, wie der Rollstuhl getan hatte,
nur daß glücklicherweise der Peter nicht in Stücke ging, wie es bei
dem Sessel der Fall gewesen war.
Nur die Depesche wurde arg zugerichtet und flog in Fetzen davon.
»Merkwürdig schüchterner Bergbewohner«, sagte Herr Sesemann vor sich
hin, denn er dachte nicht anders, als daß die Erscheinung eines
Fremden diesen starken Eindruck auf den einfachen Alpensohn
hervorgebracht habe.
Nachdem er Peters gewalttätige Talfahrt noch ein wenig betrachtet
hatte, setzte Herr Sesemann seinen Weg weiter fort.
Der Peter konnte trotz aller Anstrengung keinen festen Standpunkt
gewinnen, er rollte immerzu, und von Zeit zu Zeit überschlug er sich
noch in besonderer Weise.
Aber das war nicht die schrecklichste Seite seines Schicksals in
diesem Augenblick, viel erschrecklicher waren die Angst und das
Entsetzen, die ihn erfüllten, nun er wußte, daß der Polizeidiener
aus Frankfurt wirklich angekommen war. Denn er konnte nicht daran
zweifeln, daß der Fremde es sei, der den Frankfurtern beim Almöhi
nachgefragt hatte. Jetzt, am letzten hohen Abhange oberhalb des
Dörfli, warf es den Peter an einen Busch hin, da konnte er sich
endlich festklammern. Einen Augenblick blieb er noch liegen, er mußte
sich erst wieder ein wenig besinnen, was mit ihm sei.
»Gut so, wieder einer!« sagte eine Stimme hart neben dem Peter. »Und
wer kriegt morgen den Puff da droben, daß er herunterkommt wie ein
schlechtvernähter Kartoffelsack?«
Es war der Bäcker, der so spottete. Da er da droben aus seinem heißen
Tagewerk weg sich ein wenig erluften wollte, hatte er ruhig zugesehen,
wie eben der Peter, dem Heranrollen des Stuhles nicht unähnlich, von
oben heruntergekommen war.
Der Peter schnellte auf seine Füße. Er hatte einen neuen Schrecken.
Jetzt wußte der Bäcker auch schon, daß der Stuhl einen Puff bekommen
hatte. Ohne ein einziges Mal zurückzusehen, lief der Peter wieder den
Berg hinauf. Am liebsten wäre er jetzt heimgegangen und in sein Bett
gekrochen, daß ihn keiner mehr finden konnte, denn da fühlte er sich
am sichersten. Aber er hatte ja die Geißen noch oben, und der Öhi
hatte ihm noch eingeschärft, bald wiederzukommen, damit die Herde
nicht zu lange allein sei. Den Öhi aber fürchtete er vor allen und
hatte einen solchen Respekt vor ihm, daß er niemals gewagt hätte, ihm
ungehorsam zu sein. Der Peter ächzte laut und hinkte weiter, es mußte
ja sein, er mußte wieder hinauf. Aber rennen konnte er jetzt nicht
mehr, die Angst und die mannigfaltigen Stöße, die er soeben erduldet
hatte, konnten nicht ohne Wirkung bleiben. So ging es denn mit Hinken
und Stöhnen weiter die Alm hinauf.
Herr Sesemann hatte kurz nach der Begegnung mit Peter die erste Hütte
erreicht und wußte nun, daß er auf dem richtigen Wege war. Er stieg
mit erneutem Mute weiter, und endlich, nach langer, mühevoller
Wanderung, sah er sein Ziel vor sich. Dort oben stand die Almhütte,
und oben darüber wogten die dunkeln Wipfel der alten Tannen.
Herr Sesemann ging mit Freuden an die letzte Steigung, gleich konnte
er sein Kind überraschen. Aber schon war er von der Gesellschaft
vor der Hütte entdeckt und erkannt worden, und für den Vater wurde
vorbereitet, was er nicht ahnte.
Als er den letzten Schritt zur Höhe getan hatte, kamen ihm von der
Hütte her zwei Gestalten entgegen. Es war ein großes Mädchen mit
hellblonden Haaren und einem rosigen Gesichtchen, das stützte sich
auf das kleinere Heidi, dem ganze Freudenblitze aus den dunklen Augen
funkelten. Herr Sesemann stutzte, er stand still und starrte die
Herankommenden an. Auf einmal stürzten ihm die großen Tränen aus
den Augen. Was stiegen auch für Erinnerungen in seinem Herzen auf!
Ganz so hatte Klaras Mutter ausgesehen, das blonde Mädchen mit den
angehauchten Rosenwangen. Herr Sesemann wußte nicht, war er wachend,
oder träumte er.
»Papa, kennst du mich denn gar nicht mehr?« rief ihm jetzt Klara mit
freudestrahlendem Gesicht entgegen. »Bin ich denn so verändert?«
Nun stürzte Herr Sesemann auf sein Töchterchen zu und schloß es in
seine Arme.
»Ja, du bist verändert! Ist es möglich? Ist es Wirklichkeit?«
Und der überglückliche Vater trat wieder einen Schritt zurück, um
noch einmal hinzusehen, ob denn das Bild nicht verschwinde vor seinen
Augen.
»Bist du's, Klärchen, bist du's denn wirklich?« mußte er ein Mal ums
andere ausrufen.
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