Dann faßte sie auf einmal das Heidi um
den Hals, das neben ihr stand, und zog es zu sich heran.
»Und du, mein liebes Heidi, dich muß man doch auch noch fragen. Komm,
sag mir mal: Hast du denn nicht auch einen Wunsch, den du gern erfüllt
hättest?«
»Ja freilich, das hab ich schon«, antwortete das Heidi und blickte
sehr erfreut zu der Großmama auf.
»So, das ist recht, so komm heraus damit«, ermunterte diese. »Was
hättest du denn gern, Kind?«
»Ich hätte gern mein Bett aus Frankfurt mit den drei hohen Kissen und
der dicken Decke, dann muß die Großmutter nicht mehr mit dem Kopf
bergab liegen und kann fast nicht atmen, und sie hat warm genug unter
der Decke und muß nicht immer mit dem Schal ins Bett gehen, weil sie
sonst furchtbar friert.«
Das Heidi hatte alles in einem Atemzuge gesagt vor Eifer, zu seinem
gewünschten Ziel zu kommen.
»Ach mein liebes Heidi, was sagst du mir da!« rief die Großmama erregt
aus. »Das ist gut, daß du mich erinnerst. In der Freude vergißt man
leicht, woran man zuallererst hätte denken sollen. Wenn uns der liebe
Gott etwas Gutes schickt, müßten wir doch gleich an diejenigen denken,
die so viel entbehren! Jetzt wird auf der Stelle nach Frankfurt
telegrafiert! Noch heute soll die Rottenmeier das Bett zusammenpacken,
in zwei Tagen kann es dasein. Will's Gott, soll die Großmutter gut
schlafen darin!«
Das Heidi hüpfte frohlockend rings um die Großmama herum. Aber auf
einmal stand es still und sagte eilig: »Nun muß ich gewiß geschwind
zur Großmutter hinunter, es wird ihr auch wieder angst, wenn ich so
lang nicht mehr komme.«
Denn nun konnte das Heidi es nicht mehr erwarten, der Großmutter die
Freudenbotschaft zu bringen, und es war ihm auch wieder in den Sinn
gekommen, wie es der Großmutter angst gewesen, als es zuletzt bei ihr
war.
»Nein, nein, Heidi, was meinst du?« ermahnte der Großvater. »Wenn man
Besuch hat, läuft man nicht mit einemmal auf und davon.«
Aber die Großmama unterstützte das Heidi.
»Mein lieber Öhi, das Kind hat so unrecht nicht«, sagte sie. »Die arme
Großmutter ist auch seit langem viel zu kurz gekommen um meinetwillen.
Nun wollen wir gleich alle miteinander zu ihr gehen, und ich denke,
dort warte ich mein Pferd ab, und wir setzen dann unseren Weg weiter
fort, und unten im Dörfli wird sogleich das Telegramm nach Frankfurt
aufgegeben. Mein Sohn, was meinst du dazu?«
Herr Sesemann hatte bis jetzt noch gar nicht Zeit gehabt, über seine
Reisepläne zu sprechen. Er mußte also seine Mutter bitten, nicht
sogleich ihr Unternehmen auszuführen, sondern noch einen Augenblick
sitzen zu bleiben, bis er seine Absicht ausgesprochen habe.
Herr Sesemann hatte sich vorgenommen, mit seiner Mutter eine kleine
Reise durch die Schweiz zu machen und erst zu sehen, ob sein Klärchen
imstande sei, eine kurze Strecke mitzureisen. Nun war es so gekommen,
daß er die genußreichste Reise in Gesellschaft seiner Tochter vor sich
sah, und nun wollte er auch gleich diese schönen Spätsommertage dazu
benutzen. Er hatte im Sinne, die Nacht im Dörfli zuzubringen und am
folgenden Morgen Klara auf der Alm abzuholen, um mit ihr zur Großmama
nach dem Bade Ragaz hinunter und von da weiterzureisen.
Klara war ein wenig betroffen über die Anzeige der plötzlichen Abreise
von der Alp, aber es war ja so viel Freude daneben, und überdies war
da gar keine Zeit, sich dem Bedauern hinzugeben.
Schon war die Großmama aufgestanden und hatte Heidis Hand erfaßt, um
den Zug anzuführen. Jetzt kehrte sie sich plötzlich um.
»Aber was in aller Welt macht man nun mit Klärchen?« rief sie
erschrocken aus, denn es war ihr in den Sinn gekommen, daß der Gang
doch für sie viel zu weit sein würde.
Aber schon hatte in gewohnter Weise der Öhi sein Pflegetöchterchen auf
den Arm genommen und folgte mit festem Schritte der Großmama nach, die
jetzt mit vielem Wohlgefallen zurücknickte. Zuletzt kam Herr Sesemann,
und so ging der Zug weiter den Berg hinunter.
Das Heidi mußte immerfort aufhüpfen vor Freude an der Seite der
Großmama, und diese wollte nun alles wissen von der Großmutter, wie
sie lebe und wie alles bei ihr zugehe, besonders im Winter bei der
großen Kälte da droben.
Das Heidi berichtete über alles ganz genau, denn es wußte schon, wie
da alles zuging und wie dann die Großmutter zusammengeduckt in ihrem
Winkelchen saß und zitterte vor Kälte. Es wußte auch gut, was sie dann
zu essen hatte, und auch, was sie nicht hatte.
Bis zur Hütte hinunter hörte die Großmama mit der lebhaftesten
Teilnahme Heidis Berichten zu.
Die Brigitte war eben daran, Peters zweites Hemd an die Sonne zu
hängen, damit, wenn das eine wieder genug getragen war, das andere
angezogen werden konnte. Sie erblickte die Gesellschaft und stürzte in
die Stube hinein.
»Jetzt grad geht alles fort, Mutter«, berichtete sie. »Es ist ein
ganzer Zug; der Öhi begleitet sie, er trägt das Kranke.«
»Ach, muß es denn wirklich sein?« seufzte die Großmutter. »So nehmen
sie das Heidi mit, das hast du gesehen? Ach, wenn es mir nur auch noch
die Hand geben dürfte! Wenn ich es nur auch noch einmal hörte!«
Jetzt wurde stürmisch die Tür aufgemacht, und das Heidi war in wenigen
Sprüngen in der Ecke bei der Großmutter und umklammerte sie.
»Großmutter! Großmutter! Mein Bett kommt aus Frankfurt und alle drei
Kissen und auch die dicke Decke; in zwei Tagen ist es da, das hat die
Großmama gesagt.«
Das Heidi hatte gar nicht schnell genug seinen Bericht herausbringen
können, denn es konnte die ungeheure Freude der Großmutter fast nicht
abwarten. Sie lächelte, aber ein wenig traurig sagte sie:
»Ach, was muß das für eine gute Frau sein! Ich sollte mich nur freuen,
daß sie dich mitnimmt, Heidi, aber ich kann es nicht lang überleben.«
»Was? Was? Wer sagt denn der guten alten Großmutter so etwas?« fragte
hier eine freundliche Stimme, und die Hand der Alten wurde dabei
erfaßt und herzlich gedrückt, denn die Großmama war hinzugetreten
und hatte alles gehört. »Nein, nein, davon ist keine Rede! Das Heidi
bleibt bei der Großmutter und macht ihre Freude aus. Wir wollen das
Kind auch wiedersehen, aber wir kommen zu ihm. Jedes Jahr werden wir
nach der Alm hinaufkommen, denn wir haben Ursache, an dieser Stelle
dem lieben Gott alljährlich unseren besonderen Dank zu sagen, wo er
ein solches Wunder an unserem Kinde getan hat.«
Jetzt kam der echte Freudenschein auf das Gesicht der Großmutter, und
mit wortlosem Dank drückte sie fort und fort die Hand der guten Frau
Sesemann, während ihr vor lauter Freude ein paar große Tränen die
alten Wangen herabglitten. Das Heidi hatte den Freudenschein auf dem
Gesichte der Großmutter gleich gesehen und war jetzt ganz beglückt.
»Gelt, Großmutter«, sagte es, sich an sie schmiegend, »jetzt ist es
so gekommen, wie ich dir zuletzt gelesen habe? Gelt, das Bett aus
Frankfurt ist gewiß heilsam?«
»Ach ja, Heidi, und noch so vieles, so viel Gutes, das der liebe Gott
an mir tut!« sagte die Großmutter mit tiefer Rührung. »Wie ist es nur
möglich, daß es so gute Menschen gibt, die sich um eine arme Alte
bekümmern und so viel an ihr tun! Es ist nichts, das einem den
Glauben so stärken kann an einen guten Vater im Himmel, der auch sein
Geringstes nicht vergessen will, wie so etwas zu erfahren, daß es
solche Menschen gibt voll Güte und Barmherzigkeit für ein armes,
unnützes Weiblein, wie ich eins bin.«
»Meine gute Großmutter«, fiel hier Frau Sesemann ein, »vor unserem
Herrn im Himmel sind wir alle gleich armselig, und alle haben wir es
gleich nötig, daß er uns nicht vergesse. Und nun nehmen wir Abschied,
aber auf Wiedersehen, denn sobald wir nächstes Jahr wieder nach der
Alm kommen, suchen wir auch die Großmutter wieder auf; die wird nie
mehr vergessen!« Damit erfaßte Frau Sesemann noch einmal die Hand der
Alten und schüttelte sie.
Aber sie kam nicht so schnell fort, wie sie meinte, denn die
Großmutter konnte nicht aufhören zu danken, und alles Gute, das der
liebe Gott in seiner Hand habe, wünschte sie auf ihre Wohltäterin und
deren ganzes Haus herab.
Jetzt zog Herr Sesemann mit seiner Mutter talabwärts, während der Öhi
Klara noch einmal mit nach Hause trug und das Heidi, ohne aufzusetzen,
hochauf hüpfte neben ihnen her, denn es war so froh über die Aussicht
der Großmutter, daß es mit jedem Schritt einen Sprung machen mußte.
Am Morgen darauf aber gab es heiße Tränen bei der scheidenden Klara,
nun sie fort mußte von der schönen Alm, wo es ihr so wohl gewesen war
wie noch nie in ihrem Leben. Aber das Heidi tröstete sie und sagte:
»Es ist im Augenblick wieder Sommer, und dann kommst du wieder, und
dann ist's noch viel schöner. Dann kannst du von Anfang an gehen, und
wir können alle Tage mit den Geißen auf die Weide gehen und zu den
Blumen hinauf, und alles Lustige geht von vorn an.«
Herr Sesemann war nach Abrede gekommen, sein Töchterchen abzuholen. Er
stand jetzt drüben beim Großvater, die Männer hatten noch allerlei zu
besprechen.
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