Aber nun hatte er auch begriffen, daß es
besser geht, wenn man gleich eingestellt, was gefehlt ist, und auf
einmal sagte er:
»Und das Papier hab ich auch verloren.«
Die Großmama mußte sich ein wenig besinnen, aber der Zusammenhang kam
ihr bald in den Sinn, und sie sagte freundlich: »So, so, es ist recht,
daß du's sagst! Immer gleich bekennen, was nicht recht ist; dann
kommt's wieder in Ordnung. Und jetzt, was hättest du gern?«
Nun konnte der Peter auf der Welt wünschen, was er nur wollte.
Es wurde ihm fast schwindelig. Der ganze Jahrmarkt von Maienfeld
flimmerte vor seinen Augen mit all den schönen Sachen, die er oft
stundenlang angestaunt und für immer unerreichbar gehalten hatte, denn
Peters Besitztum hatte nie einen Fünfer überstiegen, und alle die
lockenden Gegenstände kosteten immer das Doppelte. Da waren die
schönen roten Pfeifchen, die er so gut für seine Geißen brauchen
konnte. Da waren die lockenden Messer mit runden Heften, Krötenstecher
genannt, mit denen man in allen Haselrutenhecken die besten Geschäfte
machen konnte.
Tiefsinnig stand der Peter da, denn er überdachte, welches von den
zweien das Wünschbarste wäre, und er fand den Entscheid nicht. Aber
jetzt kam ihm ein lichtvoller Gedanke; so konnte er sich noch bis zum
nächsten Jahrmarkt besinnen.
»Einen Zehner«, antwortete Peter jetzt entschlossen.
Die Großmama lachte ein wenig.
»Das ist nicht übertrieben. So komm her!« Sie zog jetzt ihren Beutel
heraus und nahm einen großen, runden Taler heraus; darauf legte sie
noch zwei Zehnerstückchen.
»So, wir wollen gerade Rechnung machen«, fuhr sie fort; »das will ich
dir erklären. Hier hast du nun gerade so viele Zehner, als Wochen im
Jahre sind! So kannst du jeden Sonntag einen Zehner hervornehmen und
verbrauchen, das ganze Jahr durch.«
»Meiner Lebtag?« fragte der Peter ganz harmlos.
Jetzt mußte die Großmama so ungeheuer lachen, daß die Herren drüben
ihr Gespräch unterbrechen mußten, um zu hören, was da vorgehe.
Die Großmama lachte immer noch.
»Das sollst du haben, Junge, das gibt einen Passus in mein Testament,
hörst du, mein Sohn? Und nachher geht er in das deinige über, also:
Dem Geißenpeter einen Zehner wöchentlich, solange er am Leben ist.«
Herr Sesemann nickte zustimmend und lachte auch herüber.
Der Peter schaute noch einmal auf das Geschenk in seiner Hand, ob es
auch wirklich wahr sei. Dann sagte er: »Danke Gott!« Und nun rannte er
davon in ganz ungewöhnlichen Sprüngen, aber diesmal blieb er doch auf
den Füßen, denn jetzt trieb ihn nicht der Schrecken davon, sondern
eine Freude, wie der Peter noch gar keine gekannt hatte sein Leben
lang. Alle Angst und Schrecken waren vergangen, und jede Woche hatte
er einen Zehner zu erwarten sein Leben lang.
Als später die Gesellschaft vor der Almhütte das fröhliche Mittagsmahl
beendet hatte und nun noch in allerlei Gesprächen zusammensaß, da nahm
Klara ihren Vater, der ganz strahlte vor Freude und jedesmal, wenn er
sie wieder anschaute, noch ein wenig glücklicher aussah, bei der Hand
und sagte mit einer Lebhaftigkeit, die man nie an der matten Klara
gekannt hatte:
»O Papa, wenn du nur wüßtest, was der Großvater alles für mich getan
hat! So viel alle Tage, daß man es gar nicht nacherzählen kann, aber
ich vergesse es in meinem ganzen Leben nicht. Und immer denke ich,
wenn ich nur dem lieben Großvater auch etwas tun könnte oder etwas
schenken, das ihm so recht Freude machen würde, auch nur halb soviel,
wie er mir Freude gemacht hat.«
»Das ist ja auch mein größter Wunsch, liebes Kind«, sagte der Vater.
»Ich sinne schon immer darüber nach, wie wir unserem Wohltäter unseren
Dank auch nur einigermaßen dartun könnten.«
Herr Sesemann stand jetzt auf und ging zum Öhi hinüber, der neben der
Großmama saß und sich ausnehmend gut mit ihr unterhalten hatte. Er
stand aber jetzt auch auf. Herr Sesemann ergriff seine Hand und sagte
in der freundschaftlichsten Weise: »Mein lieber Freund, lassen Sie uns
ein Wort zusammen sprechen! Sie werden es verstehen, wenn ich Ihnen
sage, daß ich seit langen Jahren keine rechte Freude mehr kannte. Was
war mir all mein Geld und Gut, wenn ich mein armes Kind anblickte, das
ich mit keinem Reichtum gesund und glücklich machen konnte? Nächst
unserm Gott im Himmel haben Sie mir das Kind gesund gemacht und mir,
wie ihm, damit ein neues Leben geschenkt. Nun sprechen Sie, womit
kann ich Ihnen meine Dankbarkeit zeigen? Vergelten kann ich nie, was
Sie uns getan haben, aber was ich vermag, das stelle ich zu Ihrer
Verfügung. Sprechen Sie, mein Freund, was darf ich tun?«
Der Öhi hatte still zugehört und den glücklichen Vater mit vergnügtem
Lächeln angeblickt.
»Herr Sesemann glaubt mir wohl, daß ich meinen Teil an der großen
Freude über die Genesung auf unserer Alm auch habe; meine Mühe ist mir
wohl dadurch vergolten«, sagte jetzt der Öhi in seiner festen Weise.
»Für die gütigen Anerbietungen danke ich Herrn Sesemann, ich habe
nichts nötig. Solange ich lebe, habe ich für das Kind und für mich
genug. Aber einen Wunsch hätte ich; wenn mir der erfüllt werden
könnte, so hätte ich für dieses Leben keine Sorge mehr.«
»Sprechen Sie, sprechen Sie, mein lieber Freund!« drängte Herr
Sesemann.
»Ich bin alt«, fuhr der Öhi fort, »und kann nicht mehr lange
hierbleiben. Wenn ich gehe, kann ich dem Kinde nichts hinterlassen,
und Verwandte hat es keine mehr; nur eine einzige Person, die würde
noch ihren Vorteil aus ihm ziehen wollen. Wenn mir der Herr Sesemann
die Zusicherung geben wollte, daß das Heidi nie in seinem Leben hinaus
muß, um sein Brot unter den Fremden zu suchen, dann hätte er mir
reichlich zurückgegeben, was ich für ihn und sein Kind tun konnte.«
»Aber, mein lieber Freund, davon kann ja niemals eine Rede sein«,
brach Herr Sesemann nun aus. »Das Kind gehört ja zu uns. Fragen Sie
meine Mutter, meine Tochter; das Kind Heidi werden Sie ja in ihrem
Leben nicht anderen Leuten überlassen! Aber da, wenn es Ihnen eine
Beruhigung ist, mein Freund, hier meine Hand darauf. Ich verspreche
Ihnen: Nie in seinem Leben soll dieses Kind hinaus, um unter fremden
Menschen sein Brot zu verdienen; dafür will ich sorgen, auch über
meine Lebenszeit hinaus. Nun aber will ich noch etwas sagen. Dieses
Kind ist nicht für ein Leben in der Fremde gemacht, wie auch die
Verhältnisse wären; das haben wir erfahren. Aber es hat sich Freunde
gemacht. Einen solchen kenne ich, der ist noch in Frankfurt; da tut er
seine letzten Geschäfte ab, um dann nachher dahin zu gehen, wo es ihm
gefällt, und sich da zur Ruhe zu setzen. Das ist mein Freund, der
Doktor, der noch diesen Herbst hier ankommen wird und, Ihren Rat dazu
in Anspruch nehmend, sich in dieser Gegend niederlassen will, denn in
Ihrer und des Kindes Gesellschaft hat er sich so wohl befunden wie
sonst nirgends mehr. So sehen Sie, das Kind Heidi wird fortan zwei
Beschützer in seiner Nähe haben. Mögen ihm beide miteinander noch
recht lange erhalten bleiben!«
»Das gebe der liebe Gott!« fiel hier die Großmama ein, und den Wunsch
ihres Sohnes bestätigend, schüttelte sie dem Öhi eine gute Weile mit
großer Herzlichkeit die Hand.
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