Zuletzt kam Herr Sesemann,
und so ging der Zug weiter den Berg hinunter.
Das Heidi mußte immerfort aufhüpfen vor Freude an der Seite der
Großmama, und diese wollte nun alles wissen von der Großmutter, wie
sie lebe und wie alles bei ihr zugehe, besonders im Winter bei der
großen Kälte da droben.
Das Heidi berichtete über alles ganz genau, denn es wußte schon, wie
da alles zuging und wie dann die Großmutter zusammengeduckt in ihrem
Winkelchen saß und zitterte vor Kälte. Es wußte auch gut, was sie dann
zu essen hatte, und auch, was sie nicht hatte.
Bis zur Hütte hinunter hörte die Großmama mit der lebhaftesten
Teilnahme Heidis Berichten zu.
Die Brigitte war eben daran, Peters zweites Hemd an die Sonne zu
hängen, damit, wenn das eine wieder genug getragen war, das andere
angezogen werden konnte. Sie erblickte die Gesellschaft und stürzte in
die Stube hinein.
»Jetzt grad geht alles fort, Mutter«, berichtete sie. »Es ist ein
ganzer Zug; der Öhi begleitet sie, er trägt das Kranke.«
»Ach, muß es denn wirklich sein?« seufzte die Großmutter. »So nehmen
sie das Heidi mit, das hast du gesehen? Ach, wenn es mir nur auch noch
die Hand geben dürfte! Wenn ich es nur auch noch einmal hörte!«
Jetzt wurde stürmisch die Tür aufgemacht, und das Heidi war in wenigen
Sprüngen in der Ecke bei der Großmutter und umklammerte sie.
»Großmutter! Großmutter! Mein Bett kommt aus Frankfurt und alle drei
Kissen und auch die dicke Decke; in zwei Tagen ist es da, das hat die
Großmama gesagt.«
Das Heidi hatte gar nicht schnell genug seinen Bericht herausbringen
können, denn es konnte die ungeheure Freude der Großmutter fast nicht
abwarten. Sie lächelte, aber ein wenig traurig sagte sie:
»Ach, was muß das für eine gute Frau sein! Ich sollte mich nur freuen,
daß sie dich mitnimmt, Heidi, aber ich kann es nicht lang überleben.«
»Was? Was? Wer sagt denn der guten alten Großmutter so etwas?« fragte
hier eine freundliche Stimme, und die Hand der Alten wurde dabei
erfaßt und herzlich gedrückt, denn die Großmama war hinzugetreten
und hatte alles gehört. »Nein, nein, davon ist keine Rede! Das Heidi
bleibt bei der Großmutter und macht ihre Freude aus. Wir wollen das
Kind auch wiedersehen, aber wir kommen zu ihm. Jedes Jahr werden wir
nach der Alm hinaufkommen, denn wir haben Ursache, an dieser Stelle
dem lieben Gott alljährlich unseren besonderen Dank zu sagen, wo er
ein solches Wunder an unserem Kinde getan hat.«
Jetzt kam der echte Freudenschein auf das Gesicht der Großmutter, und
mit wortlosem Dank drückte sie fort und fort die Hand der guten Frau
Sesemann, während ihr vor lauter Freude ein paar große Tränen die
alten Wangen herabglitten. Das Heidi hatte den Freudenschein auf dem
Gesichte der Großmutter gleich gesehen und war jetzt ganz beglückt.
»Gelt, Großmutter«, sagte es, sich an sie schmiegend, »jetzt ist es
so gekommen, wie ich dir zuletzt gelesen habe? Gelt, das Bett aus
Frankfurt ist gewiß heilsam?«
»Ach ja, Heidi, und noch so vieles, so viel Gutes, das der liebe Gott
an mir tut!« sagte die Großmutter mit tiefer Rührung. »Wie ist es nur
möglich, daß es so gute Menschen gibt, die sich um eine arme Alte
bekümmern und so viel an ihr tun! Es ist nichts, das einem den
Glauben so stärken kann an einen guten Vater im Himmel, der auch sein
Geringstes nicht vergessen will, wie so etwas zu erfahren, daß es
solche Menschen gibt voll Güte und Barmherzigkeit für ein armes,
unnützes Weiblein, wie ich eins bin.«
»Meine gute Großmutter«, fiel hier Frau Sesemann ein, »vor unserem
Herrn im Himmel sind wir alle gleich armselig, und alle haben wir es
gleich nötig, daß er uns nicht vergesse. Und nun nehmen wir Abschied,
aber auf Wiedersehen, denn sobald wir nächstes Jahr wieder nach der
Alm kommen, suchen wir auch die Großmutter wieder auf; die wird nie
mehr vergessen!« Damit erfaßte Frau Sesemann noch einmal die Hand der
Alten und schüttelte sie.
Aber sie kam nicht so schnell fort, wie sie meinte, denn die
Großmutter konnte nicht aufhören zu danken, und alles Gute, das der
liebe Gott in seiner Hand habe, wünschte sie auf ihre Wohltäterin und
deren ganzes Haus herab.
Jetzt zog Herr Sesemann mit seiner Mutter talabwärts, während der Öhi
Klara noch einmal mit nach Hause trug und das Heidi, ohne aufzusetzen,
hochauf hüpfte neben ihnen her, denn es war so froh über die Aussicht
der Großmutter, daß es mit jedem Schritt einen Sprung machen mußte.
Am Morgen darauf aber gab es heiße Tränen bei der scheidenden Klara,
nun sie fort mußte von der schönen Alm, wo es ihr so wohl gewesen war
wie noch nie in ihrem Leben. Aber das Heidi tröstete sie und sagte:
»Es ist im Augenblick wieder Sommer, und dann kommst du wieder, und
dann ist's noch viel schöner. Dann kannst du von Anfang an gehen, und
wir können alle Tage mit den Geißen auf die Weide gehen und zu den
Blumen hinauf, und alles Lustige geht von vorn an.«
Herr Sesemann war nach Abrede gekommen, sein Töchterchen abzuholen. Er
stand jetzt drüben beim Großvater, die Männer hatten noch allerlei zu
besprechen. Klara wischte nun ihre Tränen weg, Heidis Worte hatten sie
ein wenig getröstet.
»Ich lasse auch den Peter noch grüßen«, sagte sie wieder, »und alle
Geißen, besonders das Schwänli. Oh, wenn ich nur dem Schwänli ein
Geschenk machen könnte; es hat so viel dazu geholfen, daß ich gesund
geworden bin.«
»Das kannst du schon ganz gut«, versicherte das Heidi. »Schick ihm nur
ein wenig Salz, du weißt schon, wie gern es am Abend das Salz aus des
Großvaters Hand schleckt.«
Der Rat gefiel Klara wohl.
»Oh, dann will ich ihm gewiß hundert Pfund Salz aus Frankfurt
schicken«, rief sie erfreut aus, »es muß auch ein Andenken an mich
haben.«
Jetzt winkte Herr Sesemann den Kindern, denn er wollte abreisen.
Diesmal war das weiße Pferd der Großmama für Klara gekommen, und jetzt
konnte sie herunterreiten, sie brauchte keinen Tragsessel mehr.
Das Heidi stellte sich auf den äußersten Rand des Abhanges hinaus und
winkte mit seiner Hand der Klara zu, bis das letzte Restchen von Roß
und Reiterin geschwunden war.
Das Bett ist angekommen, und die Großmutter schläft jetzt so gut jede
Nacht, daß sie gewiß dadurch zu ganz neuen Kräften kommt. Den harten
Winter auf der Alp hat die gute Großmama auch nicht vergessen. Sie hat
einen großen Warenballen nach der Geißenpeter-Hütte gesandt. Darin war
so viel warmes Zeug verpackt, daß die Großmutter sich um und um damit
einhüllen kann und gewiß nie mehr zitternd vor Kälte in ihrer Ecke
sitzen muß.
Im Dörfli ist ein großer Bau im Gange. Der Herr Doktor ist angekommen
und hat vorderhand sein altes Quartier bezogen. Auf den Rat seines
Freundes hin hat der Herr Doktor das alte Gebäude angekauft, das der
Öhi im Winter mit dem Heidi bewohnt hatte und das ja schon einmal ein
großer Herrensitz gewesen war, was man immer noch an der hohen Stube
mit dem schönen Ofen und dem kunstreichen Getäfel sehen konnte.
Diesen Teil des Hauses läßt der Herr Doktor als seine eigene Wohnung
aufbauen. Die andere Seite wird als Winterquartier für den Öhi und
das Heidi hergestellt, denn der Herr Doktor kennt den Alten als einen
unabhängigen Mann, der seine eigene Behausung haben muß. Zuhinterst
wird ein festgemauerter, warmer Geißenstall eingerichtet, da werden
Schwänli und Bärli in sehr behaglicher Weise ihre Wintertage
zubringen.
Der Herr Doktor und der Almöhi werden täglich bessere Freunde, und
wenn sie zusammen auf dem Gemäuer herumsteigen, um den Fortgang des
Baues zu besichtigen, kommen ihre Gedanken meistens auf das Heidi,
denn beiden ist die Hauptfreude an dem Hause, daß sie mit ihrem
fröhlichen Kinde hier einziehen werden.
»Mein lieber Freund«, sagte kürzlich der Herr Doktor, mit dem Öhi oben
auf der Mauer stehend, »Sie müssen die Sache ansehen wie ich. Ich
teile alle Freude an dem Kinde mit Ihnen, als wäre ich der nächste
nach Ihnen, zu dem das Kind gehört; ich will aber auch alle
Verpflichtungen teilen und nach bester Einsicht für das Kind sorgen.
So habe ich auch meine Rechte an unserem Heidi und kann hoffen, daß es
mich in meinen alten Tagen pflegt und um mich bleibt, was mein größter
Wunsch ist. Das Heidi soll in alle Kindesrechte bei mir eintreten; so
können wir es ohne Sorge zurücklassen, wenn wir einmal von ihm gehen
müssen, Sie und ich.«
Der Öhi drückte dem Herrn Doktor lange die Hand. Er sagte kein Wort,
aber sein guter Freund konnte in den Augen des Alten die Rührung und
hohe Freude lesen, die seine Worte erweckt hatten.
Derweilen saßen das Heidi und der Peter bei der Großmutter, und
das erstere hatte so viel zu tun mit Erzählen und der letztere mit
Zuhören, daß sie alle beide kaum zu Atem kommen konnten und vor Eifer
immer näher auf die glückliche Großmutter eindrangen.
Wieviel war ihr auch zu berichten von alle dem, das den ganzen Sommer
durch sich ereignet hatte, denn man war ja so wenig zusammengekommen
während dieser Zeit.
Und von den dreien sah immer eins glücklicher aus als das andere über
das neue Zusammensein und über alle die wunderbaren Ereignisse. Jetzt
aber war das Gesicht der Mutter Brigitte noch fast am glücklichsten
anzusehen, da mit Heidis Hilfe nun zum erstenmal klar und verständlich
die Geschichte des unaufhörlichen Zehners herauskam. Zuletzt aber
sagte die Großmutter:
»Heidi, lies mir ein Lob- und Danklied! Es ist mir, als könne ich
nur noch loben und preisen und unserem Gott im Himmel Dank sagen für
alles, was er an uns getan hat.«
End of the Project BookishMall.com EBook of Heidi kann brauchen, was es gelernt hat
by Johanna Spyri
*** END OF THE PROJECT BookishMall.com EBOOK HEIDI, VOL.
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