Sprechen Sie, mein Freund, was darf ich tun?«
Der Öhi hatte still zugehört und den glücklichen Vater mit vergnügtem
Lächeln angeblickt.
»Herr Sesemann glaubt mir wohl, daß ich meinen Teil an der großen
Freude über die Genesung auf unserer Alm auch habe; meine Mühe ist mir
wohl dadurch vergolten«, sagte jetzt der Öhi in seiner festen Weise.
»Für die gütigen Anerbietungen danke ich Herrn Sesemann, ich habe
nichts nötig. Solange ich lebe, habe ich für das Kind und für mich
genug. Aber einen Wunsch hätte ich; wenn mir der erfüllt werden
könnte, so hätte ich für dieses Leben keine Sorge mehr.«
»Sprechen Sie, sprechen Sie, mein lieber Freund!« drängte Herr
Sesemann.
»Ich bin alt«, fuhr der Öhi fort, »und kann nicht mehr lange
hierbleiben. Wenn ich gehe, kann ich dem Kinde nichts hinterlassen,
und Verwandte hat es keine mehr; nur eine einzige Person, die würde
noch ihren Vorteil aus ihm ziehen wollen. Wenn mir der Herr Sesemann
die Zusicherung geben wollte, daß das Heidi nie in seinem Leben hinaus
muß, um sein Brot unter den Fremden zu suchen, dann hätte er mir
reichlich zurückgegeben, was ich für ihn und sein Kind tun konnte.«
»Aber, mein lieber Freund, davon kann ja niemals eine Rede sein«,
brach Herr Sesemann nun aus. »Das Kind gehört ja zu uns. Fragen Sie
meine Mutter, meine Tochter; das Kind Heidi werden Sie ja in ihrem
Leben nicht anderen Leuten überlassen! Aber da, wenn es Ihnen eine
Beruhigung ist, mein Freund, hier meine Hand darauf. Ich verspreche
Ihnen: Nie in seinem Leben soll dieses Kind hinaus, um unter fremden
Menschen sein Brot zu verdienen; dafür will ich sorgen, auch über
meine Lebenszeit hinaus. Nun aber will ich noch etwas sagen. Dieses
Kind ist nicht für ein Leben in der Fremde gemacht, wie auch die
Verhältnisse wären; das haben wir erfahren. Aber es hat sich Freunde
gemacht. Einen solchen kenne ich, der ist noch in Frankfurt; da tut er
seine letzten Geschäfte ab, um dann nachher dahin zu gehen, wo es ihm
gefällt, und sich da zur Ruhe zu setzen. Das ist mein Freund, der
Doktor, der noch diesen Herbst hier ankommen wird und, Ihren Rat dazu
in Anspruch nehmend, sich in dieser Gegend niederlassen will, denn in
Ihrer und des Kindes Gesellschaft hat er sich so wohl befunden wie
sonst nirgends mehr. So sehen Sie, das Kind Heidi wird fortan zwei
Beschützer in seiner Nähe haben. Mögen ihm beide miteinander noch
recht lange erhalten bleiben!«
»Das gebe der liebe Gott!« fiel hier die Großmama ein, und den Wunsch
ihres Sohnes bestätigend, schüttelte sie dem Öhi eine gute Weile mit
großer Herzlichkeit die Hand. Dann faßte sie auf einmal das Heidi um
den Hals, das neben ihr stand, und zog es zu sich heran.
»Und du, mein liebes Heidi, dich muß man doch auch noch fragen. Komm,
sag mir mal: Hast du denn nicht auch einen Wunsch, den du gern erfüllt
hättest?«
»Ja freilich, das hab ich schon«, antwortete das Heidi und blickte
sehr erfreut zu der Großmama auf.
»So, das ist recht, so komm heraus damit«, ermunterte diese. »Was
hättest du denn gern, Kind?«
»Ich hätte gern mein Bett aus Frankfurt mit den drei hohen Kissen und
der dicken Decke, dann muß die Großmutter nicht mehr mit dem Kopf
bergab liegen und kann fast nicht atmen, und sie hat warm genug unter
der Decke und muß nicht immer mit dem Schal ins Bett gehen, weil sie
sonst furchtbar friert.«
Das Heidi hatte alles in einem Atemzuge gesagt vor Eifer, zu seinem
gewünschten Ziel zu kommen.
»Ach mein liebes Heidi, was sagst du mir da!« rief die Großmama erregt
aus. »Das ist gut, daß du mich erinnerst. In der Freude vergißt man
leicht, woran man zuallererst hätte denken sollen. Wenn uns der liebe
Gott etwas Gutes schickt, müßten wir doch gleich an diejenigen denken,
die so viel entbehren! Jetzt wird auf der Stelle nach Frankfurt
telegrafiert! Noch heute soll die Rottenmeier das Bett zusammenpacken,
in zwei Tagen kann es dasein. Will's Gott, soll die Großmutter gut
schlafen darin!«
Das Heidi hüpfte frohlockend rings um die Großmama herum. Aber auf
einmal stand es still und sagte eilig: »Nun muß ich gewiß geschwind
zur Großmutter hinunter, es wird ihr auch wieder angst, wenn ich so
lang nicht mehr komme.«
Denn nun konnte das Heidi es nicht mehr erwarten, der Großmutter die
Freudenbotschaft zu bringen, und es war ihm auch wieder in den Sinn
gekommen, wie es der Großmutter angst gewesen, als es zuletzt bei ihr
war.
»Nein, nein, Heidi, was meinst du?« ermahnte der Großvater. »Wenn man
Besuch hat, läuft man nicht mit einemmal auf und davon.«
Aber die Großmama unterstützte das Heidi.
»Mein lieber Öhi, das Kind hat so unrecht nicht«, sagte sie. »Die arme
Großmutter ist auch seit langem viel zu kurz gekommen um meinetwillen.
Nun wollen wir gleich alle miteinander zu ihr gehen, und ich denke,
dort warte ich mein Pferd ab, und wir setzen dann unseren Weg weiter
fort, und unten im Dörfli wird sogleich das Telegramm nach Frankfurt
aufgegeben. Mein Sohn, was meinst du dazu?«
Herr Sesemann hatte bis jetzt noch gar nicht Zeit gehabt, über seine
Reisepläne zu sprechen. Er mußte also seine Mutter bitten, nicht
sogleich ihr Unternehmen auszuführen, sondern noch einen Augenblick
sitzen zu bleiben, bis er seine Absicht ausgesprochen habe.
Herr Sesemann hatte sich vorgenommen, mit seiner Mutter eine kleine
Reise durch die Schweiz zu machen und erst zu sehen, ob sein Klärchen
imstande sei, eine kurze Strecke mitzureisen. Nun war es so gekommen,
daß er die genußreichste Reise in Gesellschaft seiner Tochter vor sich
sah, und nun wollte er auch gleich diese schönen Spätsommertage dazu
benutzen. Er hatte im Sinne, die Nacht im Dörfli zuzubringen und am
folgenden Morgen Klara auf der Alm abzuholen, um mit ihr zur Großmama
nach dem Bade Ragaz hinunter und von da weiterzureisen.
Klara war ein wenig betroffen über die Anzeige der plötzlichen Abreise
von der Alp, aber es war ja so viel Freude daneben, und überdies war
da gar keine Zeit, sich dem Bedauern hinzugeben.
Schon war die Großmama aufgestanden und hatte Heidis Hand erfaßt, um
den Zug anzuführen. Jetzt kehrte sie sich plötzlich um.
»Aber was in aller Welt macht man nun mit Klärchen?« rief sie
erschrocken aus, denn es war ihr in den Sinn gekommen, daß der Gang
doch für sie viel zu weit sein würde.
Aber schon hatte in gewohnter Weise der Öhi sein Pflegetöchterchen auf
den Arm genommen und folgte mit festem Schritte der Großmama nach, die
jetzt mit vielem Wohlgefallen zurücknickte.
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