So könnte der Herr Doktor jeden Morgen nach der Alm
heraufkommen, was ihm wohltun müßte, meinte der Öhi, auch würde er
dann gern den Herrn noch auf allerlei Punkte führen, weiter hinauf
in die Berge, wo es ihm gefallen sollte. Diesem gefiel der ganze
Vorschlag sehr wohl, und es wurde festgesetzt, daß er ausgeführt
werden sollte.
Unterdessen war die Sonne in den Mittag gekommen; der Wind hatte sich
schon lange gelegt, und die Tannen waren ganz still geworden. Die Luft
war für die Höhe noch mild und lieblich und säuselte erfrischende
Kühle um die sonnenbeschienene Bank.
Jetzt stand der Almöhi auf und ging in die Hütte hinein, kam aber
gleich wieder und brachte einen Tisch heraus, den er vor die Bank
hinstellte.
»So, Heidi, nun hol herbei, was wir zum Essen brauchen«, sagte er.
»Der Herr muß nun vorlieb nehmen; ist unsere Küche auch einfach, so
ist das Eßzimmer doch anständig.«
»Das meine ich auch«, erwiderte der Herr Doktor, indem er auf das
sonnenbeleuchtete Tal hinunterschaute, »und die Einladung nehme ich
an, hier oben muß es schmecken.«
Das Heidi lief nun hin und her wie ein Wiesel und brachte herbei,
was es nur drinnen im Schranke finden konnte, denn daß es den Herrn
Doktor bewirten durfte, war ihm eine ungeheure Freude. Der Großvater
bereitete unterdessen das Mahl und trat nun heraus mit dem dampfenden
Milchkruge und dem goldig glänzenden Käsebraten. Dann schnitt er
schöne, durchsichtige Schnitten von dem rosigen Fleisch herunter, das
er hier oben an der reinen Luft getrocknet hatte. Dem Herrn Doktor
schmeckte sein Mittagsmahl so gut wie das ganze Jahr durch noch kein
einziges Mal.
»Ja, ja, hierhin muß unsere Klara kommen«, sagte er jetzt. »Da wird
sie zu ganz neuen Kräften gelangen, und wenn sie eine Zeitlang ißt wie
ich heute, so wird sie rund und fest werden, wie sie in ihrem Leben
noch nie war.«
Jetzt kam von unten herauf einer angestiegen, der hatte einen großen
Ballen auf dem Rücken. Wie er oben bei der Hütte ankam, warf er seine
Last auf den Boden hin und zog ein paar gute Züge von der frischen
Almluft ein.
»Ah, da kommt, was mit mir von Frankfurt hergereist ist«, sagte der
Herr Doktor aufstehend, und das Heidi mit sich ziehend, trat er an den
Ballen hin und fing an, ihn aufzulösen. Als die erste schwere Hülle
weg war, sagte er: »So, Kind, nun fahr weiter fort und hol dir deine
Schätze selbst heraus.«
Das Heidi tat so, und wie nun alles auseinanderrollte, schaute es mit
großen, verwunderten Augen auf die Dinge hin. Erst als der Herr Doktor
wieder herzutrat und von der großen Schachtel den Deckel weghob, dem
Heidi bedeutend: »Sieh, was die Großmutter zum Kaffee bekommt«, da
schrie es auf vor Freuden: »Oh! Oh! Jetzt kann die Großmutter einmal
schöne Kuchen essen!« und sprang rings um die Schachtel herum und
wollte gleich alles zusammenpacken und zur Großmutter hinuntereilen.
Aber der Großvater sagte, gegen Abend wollten sie dann miteinander den
Herrn Doktor begleiten und die Sachen mitnehmen. Jetzt fand das Heidi
auch das schöne Säckchen Tabak und brachte es schnell dem Großvater
herüber. Das gefiel ihm sehr wohl. Er füllte gleich sein Pfeifchen
damit, und die beiden Männer sprachen nun, auf der Bank sitzend und
große Rauchwolken von sich blasend, über allerhand Dinge, während das
Heidi hin und her sprang von einem seiner Schätze zum andern. Auf
einmal kam es wieder zu der Bank zurück, stellte sich vor den Gast
hin, und sowie die erste Pause im Gespräch entstand, sagte es sehr
bestimmt:
»Nein, das andere hat mir nicht mehr Freude gemacht als der alte Herr
Doktor.«
Die beiden Männer mußten ein wenig lachen, und der Herr Doktor sagte,
das hätte er nicht gedacht.
Als die Sonne halb hinter die Berge hinabsteigen wollte, stand der
Gast auf, um seine Rückreise nach dem Dörfli anzutreten und dort
Quartier zu nehmen. Der Großvater packte die Kuchenschachtel, die
große Wurst und das Tuch unter seinen Arm, der Herr Doktor nahm das
Heidi an die Hand, und so wanderten sie den Berg hinunter bis zur
Geißenpeter-Hütte. Hier mußte das Heidi Abschied nehmen. Es sollte
drinnen bei der Großmutter warten, bis es wieder abgeholt würde vom
Großvater, welcher seinen Gast nach dem Dörfli hinunter geleiten
wollte. Als der Herr Doktor dem Heidi die Hand zum Abschied bot,
fragte es: »Wollen Sie etwa gern morgen mit den Geißen auf die Weide
hinaufgehen?«, denn das war das Schönste, was es kannte.
»Es bleibt dabei, Heidi«, erwiderte er, »wir gehen zusammen.«
Nun gingen die Männer weiter, und das Heidi trat bei der Großmutter
ein. Erst schleppte es mit Anstrengung die Kuchenschachtel mit, dann
mußte es wieder hinaus, um die Wurst zu holen, denn der Großvater
hatte alles vor der Tür niedergelegt. Nachher mußte es erst noch
einmal hinaus, das große Tuch zu holen. Es brachte alles so nahe an
die Großmutter heran als nur möglich, damit sie recht alles berühren
könne und wisse, was es sei. Das Tuch legte es ihr auf die Knie.
»Es ist alles aus Frankfurt, von der Klara und der Großmama«,
berichtete es der hocherstaunten Großmutter und der verwunderten
Brigitte, der die Überraschung so in die Glieder gefahren war, daß
sie unbeweglich zugeschaut hatte, wie das Heidi mit der größten
Anstrengung die schweren Gegenstände hereingeschleppt und nun alles
vor ihren Augen ausgebreitet hatte.
»Aber gelt, Großmutter, die Kuchen freuen dich furchtbar stark?
Sieh nur, wie weich sie sind!« rief das Heidi immer wieder, und die
Großmutter bestätigte: »Ja, ja, gewiß, Heidi, was sind das auch für
gute Leute!« Dann strich sie wieder mit der Hand über das warme,
weiche Tuch und sagte: »Aber das ist etwas Herrliches für den kalten
Winter! Das ist etwas so Prächtiges, daß ich nie geglaubt hätte, ich
könnte in meinem Leben dazu kommen.«
Das Heidi aber mußte sich sehr verwundern, daß die Großmutter an dem
grauen Tuch noch mehr Freude haben konnte als an den Kuchen. Die
Brigitte stand immer noch vor der Wurst, die auf dem Tische lag, und
schaute sie fast mit Verehrung an. In ihrem ganzen Leben hatte sie
nie eine solche Riesenwurst gesehen, und diese sollte sie nun selbst
besitzen und einmal sogar anschneiden; das kam ihr unglaublich vor.
Sie schüttelte den Kopf und sagte zaghaft: »Man wird doch noch den Öhi
fragen müssen, wie das gemeint sei.«
Aber das Heidi sagte ganz ohne Zweifel:
»Das ist zum Essen gemeint und gar nicht anders.«
Jetzt kam der Peter hereingestolpert: »Der Almöhi kommt hinter mir
drein, das Heidi soll…«; er konnte nicht mehr weiter. Seine Blicke
waren auf den Tisch gefallen, wo die Wurst lag, und der Anblick hatte
ihn so überwältigt, daß er kein Wort mehr fand. Aber das Heidi hatte
schon gemerkt, was kommen sollte, und gab schnell der Großmutter die
Hand. Der Almöhi ging zwar jetzt nie mehr an der Hütte vorbei, ohne
schnell hereinzutreten und die Großmutter zu grüßen, und sie freute
sich auch immer, wenn sie seinen Schritt hörte, denn er hatte jedesmal
ein ermunterndes Wort für sie; aber heute war es spät geworden für das
Heidi, das alle Morgen mit der Sonne draußen war. Der Großvater aber
sagte: »Das Kind muß seinen Schlaf haben«, und dabei blieb er. So rief
er durch die offene Tür der Großmutter nur eine gute Nacht zu und nahm
das heranspringende Heidi bei der Hand, und unter dem flimmernden
Sternenhimmel hin wanderten die beiden ihrer friedlichen Hütte zu.
Eine Vergeltung
Am anderen Morgen in der Frühe stieg der Herr Doktor vom Dörfli den
Berg hinan in der Gesellschaft des Peter und seiner Geißen. Der
freundliche Herr versuchte ein paarmal mit dem Geißbuben ein Gespräch
anzuknüpfen, aber es gelang ihm nicht, kaum daß er als Antwort auf
einleitende Fragen unbestimmte, einsilbige Worte zu hören bekam.
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