Eben war er wieder zurückgetreten, als mit einemmal das
Heidi laut aufschrie:
»Großvater, Großvater! Komm, komm!«
Er trat rasch wieder heraus, fast erschrocken, was mit dem Kinde sei.
Da sah er, wie dieses dem Abhange zulief, laut schreiend: »Sie kommen,
sie kommen! Und voran der Herr Doktor!«
Das Heidi stürzte seinem alten Freunde entgegen. Dieser streckte
grüßend die Hand aus. Wie das Kind ihn erreicht hatte, umfaßte es
zärtlich den ausgestreckten Arm und rief in voller Herzensfreude:
»Guten Tag, Herr Doktor! Und ich danke auch noch vieltausendmal!«
»Grüß Gott, Heidi! Und wofür dankst du denn schon?« fragte freundlich
lächelnd der Herr Doktor.
»Daß ich wieder heim konnte zum Großvater«, erklärte ihm das Kind.
Dem Herrn Doktor ging's wie ein Sonnenschein über das Gesicht.
Diesen Empfang auf der Alp hatte er nicht erwartet. Im Gefühl seiner
Einsamkeit war er unter tiefsinnigen Gedanken den Berg hinaufgestiegen
und hatte noch nicht einmal gesehen, wie schön es um ihn her war und
daß es immer schöner wurde. Er hatte angenommen, das Kind Heidi werde
ihn kaum mehr kennen; es hatte ihn so wenig gesehen, und er kam sich
vor wie einer, der kommt, den Leuten eine Enttäuschung zu bereiten,
und den sie darum nicht ansehen mögen, weil er ja die erwarteten
Freunde nicht mitbrachte. Statt dessen leuchtete dem Heidi die helle
Freude aus den Augen, und voller Dank und Liebe hielt es immer noch
den Arm seines guten Freundes fest.
Mit väterlicher Zärtlichkeit nahm der Herr Doktor das Kind bei der
Hand. »Komm, Heidi«, sagte er in freundlichster Weise, »führe mich nun
zu deinem Großvater und zeige mir, wo du daheim bist.«
Aber das Heidi blieb noch stehen und schaute verwundert den Berg
hinunter.
»Wo sind denn Klara und die Großmama?« fragte es jetzt.
»Ja, nun muß ich dir's sagen, was dir leid tun wird wie mir auch«,
erwiderte der Herr Doktor. »Sieh, Heidi, ich komme allein. Klara war
recht krank und konnte nicht mehr reisen, und so kam auch die Großmama
nicht mit. Aber dann im Frühjahr, wenn die Tage wieder warm und schön
lang werden, dann kommen sie ganz sicher.«
Das Heidi stand sehr betroffen da; es konnte gar nicht fassen, daß es
nun alles, was es so sicher vor sich gesehen hatte, auf einmal gar
nicht mehr sehen sollte. Regungslos stand es eine Weile wie verwirrt
von dem Unerwarteten. Schweigend stand der Herr Doktor vor ihm, und
ringsum war alles still, nur hoch oben hörte man den Wind durch die
Tannen sausen. Da fiel es dem Heidi auf einmal wieder ein, warum es
heruntergelaufen sei und daß der Herr Doktor ja gekommen sei. Es
schaute zu ihm auf. Da lag etwas so Trauriges in den Augen, die zu ihm
niederschauten, wie es noch gar nicht gesehen hatte. So war es nie
gewesen, wenn der Herr Doktor in Frankfurt es angeblickt hatte. Das
ging dem Heidi zu Herzen; es konnte nicht sehen, daß jemand traurig
war, und nun gar der gute Herr Doktor. Gewiß war er so, weil Klara und
die Großmama nicht hatten mitkommen können. Es suchte schnell nach
einem Trost und fand ihn.
»Oh, es währt gewiß nicht lange, bis es wieder Frühling wird, und dann
kommen sie ja bestimmt«, tröstete das Heidi. »Bei uns währt es gar
nie lange, und dann können sie ja viel länger dableiben, das will die
Klara gewiß noch lieber. Und jetzt wollen wir zum Großvater hinauf.«
Hand in Hand mit dem guten Freunde stieg es nun zu der Hütte hinan. Es
war dem Heidi so sehr daran gelegen, den Herrn Doktor wieder froh zu
machen, daß es ihn noch einmal zu überzeugen anfing, es währe so wenig
lange auf der Alm, bis die langen, warmen Sommertage wiederkommen, daß
man es kaum merke, und dabei wurde das Heidi selbst so überzeugt von
seinem Trost, daß es oben dem Großvater ganz fröhlich entgegenrief:
»Sie sind noch nicht da, aber es währt gar nicht lange, so kommen sie
auch.«
Für den Großvater war der Herr Doktor kein Fremder, das Kind hatte ja
so viel von ihm gesprochen. Der Alte streckte seinem Gaste die Hand
entgegen und bewillkommte ihn mit Herzlichkeit. Dann setzten sich die
Männer auf die Bank an der Hütte. Auch für das Heidi wurde da noch ein
Plätzchen gemacht, und der Herr Doktor winkte ihm freundlich, daß es
neben ihm sitzen solle. Nun fing er an zu erzählen, wie Herr Sesemann
ihn ermuntert habe, die Reise zu machen, und wie er auch selbst
gefunden, es möchte gut für ihn sein, da er sich seit langem nicht
mehr recht frisch und rüstig fühle. Dem Heidi sagte er dann ins Ohr,
es werde bald noch etwas den Berg heraufkommen, das aus Frankfurt mit
hergereist sei und ihm eine viel größere Freude machen werde als der
alte Doktor. Das Heidi war sehr gespannt darauf zu erfahren, was
das sein könne. Der Großvater ermunterte den Herrn Doktor sehr, die
schönen Herbsttage noch auf der Alm zuzubringen oder wenigstens an
jedem schönen Tage heraufzukommen, denn hier oben zu bleiben, dazu
konnte ihn der Almöhi nicht einladen, da war ja keine Gelegenheit, den
Herrn zu logieren. Er riet aber seinem Gaste, nicht bis nach Ragaz
zurückzukehren, sondern unten im Dörfli ein Zimmer zu beziehen, das er
im dortigen Wirthause in einer einfachen, aber ganz ordentlichen Art
finden werde.
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