Das war ein Leid in Heidis Herzen, das immer neu erwachte,
sobald die Sache ihm wieder ins Bewußtsein kam. Es schwieg eine
Weile ganz still, denn das Weh hatte es so mitten in die Freude
hineingetroffen. Dann sagte es ernsthaft:
»Ja, das kann ich schon verstehen. Aber ich weiß etwas: Dann muß man
die Lieder der Großmutter sagen, die machen einem wieder ein wenig
helle und manchmal so hell, daß man ganz fröhlich wird. Das hat die
Großmutter gesagt.«
»Welche Lieder, Heidi?« fragte der Herr Doktor.
»Ich kann nur das von der Sonne und dem schönen Garten und noch von
dem andern langen die Verse, die der Großmutter lieb sind, denn die
muß ich immer dreimal lesen«, erwiderte das Heidi.
»So sag mir einmal diese Verse, die möchte ich auch hören«, und der
Herr Doktor setzte sich zurecht, um aufmerksam zuzuhören.
Heidi legte seine Hände ineinander und besann sich noch ein Weilchen:
»Soll ich dort anfangen, wo die Großmutter sagt, daß einem wieder eine
Zuversicht ins Herz kommt?«
Der Herr Doktor nickte bejahend.
Jetzt begann Heidi:
»Ihn, ihn laß tun und walten,
Er ist ein weiser Fürst
Und wird es so gestalten,
Daß du dich wundern wirst,
Wenn er, wie ihm gebühret,
Mit wunderbarem Rat
Das Werk hinausgeführet,
Das dich bekümmert hat.
Er wird zwar eine Weile
Mit seinem Trost verziehn
Und tun an seinem Teile,
Als hätt' in seinem Sinn
Er deiner sich begeben,
Als sollt'st du für und für
In Angst und Nöten schweben,
Als fragt' er nichts nach dir.
Wird's aber sich begeben,
Daß du ihm treu verbleibst,
So wird er dich erheben,
Da du's am mind'sten gläubst.
Er wird dein Herz erlösen
Von der so schweren Last,
Die du zu keinem Bösen
Bisher getragen hast.«
Heidi hielt plötzlich inne, es war nicht sicher, daß der Herr Doktor
auch noch zuhöre. Er hatte die Hand über seine Augen gebreitet und saß
unbeweglich da. Es dachte, er sei vielleicht ein wenig eingeschlafen;
wenn er dann wieder erwachte und noch mehr Verse hören wollte, würde
er es schon sagen. Jetzt war alles still. Der Herr Doktor sagte
nichts, aber er schlief doch nicht. Er war in eine längst vergangene
Zeit zurückversetzt. Da stand er als ein kleiner Junge neben dem
Sessel seiner lieben Mutter; die hatte ihren Arm um seinen Hals gelegt
und sagte ihm das Lied vor, das er eben von Heidi hörte und das er so
lange nicht mehr vernommen hatte. Jetzt hörte er die Stimme seiner
Mutter wieder und sah ihre guten Augen so liebevoll auf ihm ruhen, und
als die Worte des Liedes verklungen waren, hörte er die freundliche
Stimme noch andere Worte zu ihm sprechen. Die mußte er gern hören und
ihnen weit nachgehen in seinen Gedanken, denn noch lange Zeit saß er
so da, das Gesicht in seine Hand gelegt, schweigend und regungslos.
Als er sich endlich aufrichtete, sah er, wie das Heidi in Verwunderung
nach ihm blickte. Er nahm die Hand des Kindes in die seinige.
»Heidi, dein Lied war schön«, sagte er, und seine Stimme klang froher,
als sie bis jetzt geklungen hatte. »Wir wollen wieder hierherkommen,
dann sagst du mir's noch einmal.«
Während dieser ganzen Zeit hatte der Peter genug zu tun gehabt, seinem
Ärger Luft zu machen. Da war das Heidi seit vielen Tagen nicht mit auf
der Weide gewesen, und nun, da es endlich einmal wieder mit war, saß
der alte Herr die ganze Zeit neben ihm, und der Peter konnte gar nicht
an das Heidi herankommen. Das verdroß ihn sehr stark. Er stellte sich
in einiger Entfernung hinter dem ahnungslosen Herrn auf, so daß dieser
ihn nicht sehen konnte, und hier machte er erst eine große Faust und
schwang sie drohend in der Luft herum, und nach einiger Zeit machte er
zwei Fäuste, und je länger das Heidi neben dem Herrn sitzen blieb, je
schrecklicher ballte der Peter seine Fäuste und streckte sie immer
höher und drohender in die Luft hinauf hinter dem Rücken des
Bedrohten.
Unterdessen war die Sonne dahin gekommen, wo sie steht, wenn man zu
Mittag essen muß; das kannte der Peter genau. Auf einmal schrie er aus
allen Kräften zu den zweien hinüber:
»Man muß essen!«
Heidi stand auf und wollte den Sack herbeiholen, damit der Herr Doktor
auf dem Platze, wo er saß, sein Mittagsmahl abhalten könne. Aber
er sagte, er habe keinen Hunger, er wünsche nur ein Glas Milch zu
trinken, dann wolle er gern noch ein wenig auf der Alp umhergehen
und etwas weiter hinaufsteigen. Da fand das Heidi, dann habe es auch
keinen Hunger und wolle auch nur Milch trinken, und nachher wolle es
den Herrn Doktor hinaufführen zu den großen, moosbedeckten Steinen
hoch oben, wo der Distelfink einmal fast hinuntergesprungen wäre und
wo alle die würzigen Kräutlein wuchsen. Es lief zum Peter hinüber und
erklärte ihm alles und daß er nun erst eine Schale Milch vom Schwänli
nehmen müsse für den Herrn Doktor und dann noch eine, die wolle es für
sich haben. Der Peter schaute erst eine Weile sehr erstaunt das Heidi
an, dann fragte er:
»Wer muß haben, was im Sack ist?«
»Das kannst du haben, aber zuerst mußt du die Milch geben, und
hurtig«, war Heidis Antwort.
So rasch hatte der Peter in seinem Leben noch keine Tat vollendet, als
er nun diese fertigbrachte, denn er sah immer den Sack vor sich und
wußte noch nicht, wie das aussah, was drinnen war und ihm gehörte.
Sobald drüben die beiden ruhig ihre Milch tranken, öffnete der Peter
den Sack und tat einen Blick hinein. Als er das wundervolle Stück
Fleisch gewahr wurde, da schüttelte es den ganzen Peter vor Freude,
und er tat noch einen Blick hinein, um sich zu versichern, daß es
auch wahr sei. Dann fuhr er mit der Hand in den Sack hinein, um die
erwünschte Gabe zum Genuß herauszuholen. Aber auf einmal zog er die
Hand wieder zurück, als ob er nicht zugreifen dürfe. Es war dem Peter
in den Sinn gekommen, wie er dort hinter dem Herrn gestanden und gegen
ihn gefaustet hatte, und nun schenkte ihm derselbe Herr sein ganzes
unvergleichliches Mittagsessen. Jetzt reute den Peter seine Tat, denn
es war ihm gerade so, wie wenn sie ihn verhinderte, sein schönes
Geschenk herauszunehmen und sich daran zu erlaben. Auf einmal sprang
er in die Höhe und lief zurück auf die Stelle hin, wo er gestanden
hatte. Da streckte er seine beiden Hände ganz flach in die Luft
hinauf, zum Zeichen, daß das Fausten nicht mehr gelte, und so blieb
er eine gute Weile stehen, bis er das Gefühl hatte, die Sache sei
nun wieder ausgeglichen.
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