Dann kam er in großen Sprüngen zu dem Sack
zurück, und nun, da das gute Gewissen hergestellt war, konnte er mit
vollem Vergnügen in sein ungewöhnlich leckeres Mittagsmahl beißen.
Der Herr Doktor und das Heidi waren lange miteinander herumgewandert
und hatten sich sehr gut unterhalten. Jetzt aber fand der Herr, es sei
Zeit für ihn zurückzukehren, und meinte, das Kind wolle nun auch gern
noch ein wenig bei seinen Geißen bleiben. Aber das kam dem Heidi nicht
in den Sinn, denn dann mußte ja der Herr Doktor mutterseelenallein die
ganze Alp hinuntergehen. Bis zur Hütte vom Großvater wollte es ihn
durchaus begleiten und auch noch ein Stück darüber hinaus. Es ging
immer Hand in Hand mit seinem guten Freunde und hatte auf dem ganzen
Wege ihm noch genug zu erzählen und ihm alle Stellen zu zeigen, wo die
Geißen am liebsten weideten und wo es im Sommer am meisten von den
glänzenden gelben Weideröschen und vom roten Tausendgüldenkraut und
noch anderen Blumen gebe. Die wußte es nun alle zu benennen, denn der
Großvater hatte ihm den Sommer durch alle ihre Namen beigebracht,
so, wie er sie kannte. Aber zuletzt sagte der Herr Doktor, nun müsse
es zurückkehren. Sie nahmen Abschied, und der Herr ging den Berg
hinunter, doch kehrte er sich von Zeit zu Zeit noch einmal um. Dann
sah er, wie das Heidi immer noch auf derselben Stelle stand und ihm
nachschaute und mit der Hand ihm nachwinkte. So hatte sein eigenes,
liebes Töchterchen getan, wenn er von Hause fortging.
Es war ein klarer, sonniger Herbstmonat. Jeden Morgen kam der Herr
Doktor zur Alp herauf, und dann ging es gleich weiter auf eine schöne
Wanderung. öfters zog er mit dem Almöhi aus, hoch in die Felsenberge
hinauf, wo die alten Wettertannen herunternickten und der große Vogel
in der Nähe hausen mußte, denn da schwirrte er manchmal sausend und
krächzend ganz nahe an den Köpfen der beiden Männer vorbei. Der Herr
Doktor hatte ein großes Wohlgefallen an der Unterhaltung seines
Begleiters, und er mußte sich immer mehr verwundern, wie gut der Öhi
alle Kräutlein ringsherum auf seiner Alp kannte und wußte, wozu sie
gut waren, und wieviel kostbare und gute Dinge er da droben überall
herauszufinden wußte; so in den harzigen Tannen und in den dunklen
Fichtenbäumen mit den duftenden Nadeln, in dem gekräuselten Moos,
das zwischen den alten Baumwurzeln emporsproß, und in all den feinen
Pflänzchen und unscheinbaren Blümchen, die noch ganz hoch oben dem
kräftigen Alpenboden entsprangen.
Ebenso genau kannte der Alte auch das Wesen und Treiben aller Tiere da
oben, der großen und der kleinen, und er wußte dem Herrn Doktor ganz
lustige Dinge von der Lebensweise dieser Bewohner der Felsenlöcher,
der Erdhöhlen und auch der hohen Tannenwipfel zu erzählen.
Dem Herrn Doktor verging die Zeit auf diesen Wanderungen, er wußte gar
nicht, wie, und oftmals, wenn er am Abend dem Öhi herzlich die Hand
zum Abschiede schüttelte, mußte er von neuem sagen: »Guter Freund, von
Ihnen gehe ich nie fort, ohne wieder etwas gelernt zu haben.«
An vielen Tagen aber, und gewöhnlich an den allerschönsten, wünschte
der Herr Doktor mit dem Heidi auszuziehen. Dann saßen die beiden öfter
miteinander auf dem schönen Vorsprunge der Alp, wo sie am ersten Tage
gesessen hatten, und das Heidi mußte wieder seine Liederverse sagen
und dem Herrn Doktor erzählen, was es nur wußte. Dann saß der Peter
öfter hinter ihnen an seinem Platze, aber er war jetzt ganz zahm und
faustete nie mehr.
So ging der schöne Septembermonat zu Ende. Da kam der Herr Doktor
eines Morgens und sah nicht so fröhlich aus, wie er sonst immer
ausgesehen hatte. Er sagte, es sei sein letzter Tag, er müsse nach
Frankfurt zurückkehren; das mache ihm große Mühe, denn er habe die
Alp so liebgewonnen, als wäre sie seine Heimat. Dem Almöhi tat die
Nachricht sehr leid, denn auch er hatte sich überaus gern mit dem
Herrn Doktor unterhalten, und das Heidi hatte sich so daran gewöhnt,
alle Tage seinen liebevollen Freund zu sehen, daß es gar nicht
begreifen konnte, wie das nun mit einem Male ein Ende nehmen sollte.
Es schaute fragend und ganz verwundert zu ihm auf. Aber es war
wirklich so. Der Herr Doktor nahm Abschied vom Großvater und fragte
dann, ob das Heidi ihn noch ein wenig begleiten werde. Es ging an
seiner Hand den Berg hinunter, aber es konnte immer noch nicht recht
fassen, daß er ganz fortgehe.
Nach einer Welle stand der Herr Doktor still und sagte, nun sei das
Heidi weit genug gekommen, es müsse zurückkehren. Er fuhr ein paarmal
zärtlich mit seiner Hand über das krause Haar des Kindes hin und
sagte: »Nun muß ich fort, Heidi! Wenn ich dich nur mit mir nach
Frankfurt nehmen und bei mir behalten könnte!«
Dem Heidi stand auf einmal ganz Frankfurt vor den Augen, die vielen,
vielen Häuser und steinernen Straßen und auch Fräulein Rottenmeier und
die Tinette, und es antwortete ein wenig zaghaft: »Ich wollte doch
lieber, daß Sie wieder zu uns kämen.«
»Nun ja, so wird's besser sein. So leb wohl, Heidi«, sagte freundlich
der Herr Doktor und hielt ihm die Hand hin. Das Kind legte die seinige
hinein und schaute zu dem Scheidenden auf. Die guten Augen, die zu ihm
niederblickten, füllten sich mit Wasser. Jetzt wandte sich der Herr
Doktor rasch und eilte den Berg hinunter.
Das Heidi blieb stehen und rührte sich nicht. Die liebevollen Augen
und das Wasser, das es darinnen gesehen hatte, arbeiteten stark in
seinem Herzen. Auf einmal brach es in ein lautes Weinen aus, und mit
aller Macht stürzte es dem Forteilenden nach und rief, von Schluchzen
unterbrochen, aus allen Kräften:
»Herr Doktor! Herr Doktor!«
Er kehrte um und stand still.
Jetzt hatte ihn das Kind erreicht. Die Tränen strömten ihm die Wangen
herunter, während es herausschluchzte:
»Ich will gewiß auf der Stelle mit nach Frankfurt kommen und will bei
Ihnen bleiben, so lang Sie wollen, ich muß es nur noch geschwind dem
Großvater sagen.«
Der Herr Doktor streichelte beruhigend das erregte Kind.
»Nein, mein liebes Heidi«, sagte er mit dem freundlichsten Tone,
»nicht jetzt auf der Stelle; du mußt noch unter den Tannen bleiben,
du könntest mir wieder krank werden. Aber komm, ich will dich etwas
fragen: Wenn ich einmal krank und allein bin, willst du dann zu mir
kommen und bei mir bleiben? Kann ich denken, daß sich dann noch jemand
um mich kümmern und mich liebhaben will?«
»Ja, ja, dann will ich sicher kommen, noch am gleichen Tag, und Sie
sind mir auch fast so lieb wie der Großvater«, versicherte das Heidi
noch unter fortwährendem Schluchzen.
Jetzt drückte ihm der Herr Doktor noch einmal die Hand, dann setzte
er rasch seinen Weg fort.
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