Nun könne gar kein
Mensch wissen, was dem Heidi alles an Glück und Wohlfahrt
bevorstehe, denn wenn es dann einmal dort sei und die Leute es gern
mögen und es etwa mit dem eigenen Töchterchen etwas geben sollte—
man könne ja nie wissen, es sei doch so schwächlich—, und wenn
eben die Leute doch nicht ohne ein Kind bleiben wollten, so könnte
ja das unerhörteste Glück—
"Bist du bald fertig?", unterbrach hier der Öhi, der bis dahin kein
Wort dazwischengeredet hatte.
"Pah", gab die Dete zurück und warf den Kopf auf, "Ihr tut gerade,
wie wenn ich Euch das ordinärste Zeug gesagt hätte, und ist doch
durchs ganze Prättigau auf und ab nicht einer, der nicht Gott im
Himmel dankte, wenn ich ihm die Nachricht brächte, die ich Euch
gebracht habe."
"Bring sie, wem du willst, ich will nichts davon", sagte der Öhi
trocken.
Aber jetzt fuhr die Dete auf wie eine Rakete und rief: "Ja, wenn
Ihr es so meint, dann will ich Euch denn schon auch sagen, wie ich
es meine: Das Kind ist jetzt acht Jahre alt und kann nichts und
weiß nichts, und Ihr wollt es nichts lernen lassen; Ihr wollt es in
keine Schule und in keine Kirche schicken, das haben sie mir gesagt
unten im Dörfli, und es ist meiner einzigen Schwester Kind; ich hab
es zu verantworten, wie's mit ihm geht, und wenn ein Kind ein Glück
erlangen kann wie jetzt das Heidi, so kann ihm nur einer davor sein,
dem es um alle Leute gleich ist und der keinem etwas Gutes wünscht.
Aber ich gebe nicht nach, das sag ich Euch, und die Leute habe
ich alle für mich, es ist kein Einziger unten im Dörfli, der nicht
mir hilft und gegen Euch ist, und wenn Ihr's etwa wollt vor Gericht
kommen lassen, so besinnt Euch wohl, Öhi; es gibt noch Sachen, die
Euch dann könnten aufgewärmt werden, die Ihr nicht gern hörtet,
denn wenn man's einmal mit dem Gericht zu tun hat, so wird noch
manches aufgespürt, an das keiner mehr denkt."
"Schweig!", donnerte der Öhi heraus, und seine Augen flammten wie
Feuer. "Nimm's und verdirb's! Komm mir nie mehr vor Augen mit ihm,
ich will's nie sehen mit dem Federhut auf dem Kopf und Worten im
Mund wie dich heut!"
Der Öhi ging mit großen Schritten zur Tür hinaus.
"Du hast den Großvater bös gemacht", sagte Heidi und blitzte mit
seinen schwarzen Augen die Base wenig freundlich an.
"Er wird schon wieder gut, komm jetzt", drängte die Base; "wo sind
deine Kleider?"
"Ich komme nicht", sagte Heidi.
"Was sagst du?", fuhr die Base auf; dann änderte sie den Ton ein
wenig und fuhr halb freundlich, halb ärgerlich weiter: "Komm, komm,
du verstehst's nicht besser, du wirst es so gut haben, wie du gar
nicht weißt." Dann ging sie an den Schrank, nahm Heidis Sachen
hervor und packte sie zusammen: "So, komm jetzt, nimm dort dein
Hütchen, es sieht nicht schön aus, aber es ist gleich für einmal,
setz es auf und mach, dass wir fortkommen."
"Ich komme nicht", wiederholte Heidi.
"Sei doch nicht so dumm und störrig wie eine Geiß; denen hast du's
abgesehen. Begreif doch nur, jetzt ist der Großvater bös, du
hast's ja gehört, dass er gesagt hat, wir sollen ihm nicht mehr vor
Augen kommen, er will es nun haben, dass du mit mir gehst, und
jetzt musst du ihn nicht noch böser machen. Du weißt gar nicht,
wie schön es ist in Frankfurt und was du alles sehen wirst, und
gefällt es dir dann nicht, so kannst du wieder heimgehen; bis dahin
ist der Großvater dann wieder gut."
"Kann ich gerad wieder umkehren und heimkommen heut Abend?", fragte
Heidi.
"Ach was, komm jetzt! Ich sag dir's ja, du kannst wieder heim,
wann du willst. Heut gehen wir bis nach Maienfeld hinunter und
morgen früh sitzen wir in der Eisenbahn, mit der bist du nachher im
Augenblick wieder daheim, das geht wie geflogen."
Die Base Dete hatte das Bündelchen Kleider auf den Arm und Heidi an
die Hand genommen; so gingen sie den Berg hinunter.
Da es noch nicht Weidezeit war, ging der Peter noch zur Schule ins
Dörfli hinunter, oder sollte doch dahin gehen; aber er machte hier
und da einen Tag Ferien, denn er dachte, es nütze nichts, dahin zu
gehen, das Lesen brauche man auch nicht, und ein wenig herumfahren
und große Ruten suchen nütze etwas, denn diese könne man brauchen.
So kam er eben in der Nähe seiner Hütte von der Seite her mit
sichtlichem Erfolg seiner heutigen Bestrebungen, denn er trug ein
ungeheures Bündel langer, dicker Haselruten auf der Achsel. Er
stand still und starrte die zwei Entgegenkommenden an, bis sie bei
ihm ankamen; dann sagte er: "Wo willst du hin?"
"Ich muss nur geschwind nach Frankfurt mit der Base", antwortete
Heidi, "aber ich will zuerst noch zur Großmutter hinein, sie wartet
auf mich."
"Nein, nein, keine Rede, es ist schon viel zu spät", sagte die Base
eilig und hielt das fortstrebende Heidi fest bei der Hand; "du
kannst dann gehen, wenn du wieder heimkommst, komm jetzt!" Damit
zog die Base das Heidi fest weiter und ließ es nicht mehr los, denn
sie fürchtete, es könne drinnen dem Kinde wieder in den Sinn kommen,
es wolle nicht fort, und die Großmutter könne ihm helfen wollen.
Der Peter sprang in die Hütte hinein und schlug mit seinem ganzen
Bündel Ruten so furchtbar auf den Tisch los, dass alles erzitterte
und die Großmutter vor Schrecken vom Spinnrad aufsprang und laut
aufjammerte. Der Peter hatte sich Luft machen müssen.
"Was ist's denn? Was ist's denn?", rief angstvoll die Großmutter,
und die Mutter, die am Tisch gesessen hatte und fast aufgeflogen
war bei dem Knall, sagte in angeborener Langmut: "Was hast, Peterli;
warum tust so wüst?"
"Weil sie das Heidi mitgenommen hat", erklärte Peter.
"Wer? Wer? Wohin, Peterli, wohin?", fragte die Großmutter jetzt
mit neuer Angst; sie musste aber schnell erraten haben, was vorging,
die Tochter hatte ihr ja vor kurzem berichtet, sie habe die Dete
gesehen zum Alm-Öhi hinaufgehen. Ganz zitternd vor Eile machte die
Großmutter das Fenster auf und rief flehentlich hinaus: "Dete, Dete,
nimm uns das Kind nicht weg! Nimm uns das Heidi nicht!"
Die beiden Laufenden hörten die Stimme, und die Dete mochte wohl
ahnen, was sie rief, denn sie fasste das Kind noch fester und lief,
was sie konnte. Heidi widerstrebte und sagte: "Die Großmutter hat
gerufen, ich will zu ihr."
Aber das wollte die Base gerade nicht und beschwichtigte das Kind,
es solle nur schnell kommen jetzt, dass sie nicht noch zu spät
kämen, sondern dass sie morgen weiterreisen könnten, es könnte ja
dann sehen, wie es ihm gefallen werde in Frankfurt, dass es gar nie
mehr fortwolle dort; und wenn es doch heim wolle, so könne es ja
gleich gehen und dann erst noch der Großmutter etwas mit
heimbringen, was sie freue. Das war eine Aussicht für Heidi, die
ihm gefiel. Es fing an zu laufen ohne Widerstreben.
"Was kann ich der Großmutter heimbringen?", fragte es nach einer
Welle.
"Etwas Gutes", sagte die Base, "so schöne, weiche Weißbrötchen, da
wird sie Freud haben daran, sie kann ja doch das harte, schwarze
Brot fast nicht mehr essen."
"Ja, sie gibt es immer wieder dem Peter und sagt: 'Es ist mir
zu hart'; das habe ich selbst gesehen", bestätigte das Heidi.
"So wollen wir geschwind gehen, Base Dete; dann kommen wir
vielleicht heut noch nach Frankfurt, dass ich bald wieder da bin
mit den Brötchen."
Heidi fing nun so zu rennen an, dass die Base mit ihrem Bündel auf
dem Arm fast nicht mehr nachkam. Aber sie war sehr froh, dass es
so rasch ging, denn nun kamen sie gleich zu den ersten Häusern vom
Dörfli, und da konnte es wieder allerhand Reden und Fragen geben,
die das Heidi wieder auf andere Gedanken bringen konnten. So lief
sie stracks durch, und das Kind zog dabei noch so stark an ihrer
Hand, dass alle Leute es sehen konnten, wie sie um des Kindes
willen so pressieren musste. So rief sie auf alle die Fragen und
Anrufungen, die ihr aus allen Fenstern und Türen entgegentönten,
nur immer zurück: "Ihr seht's ja, ich kann jetzt nicht still stehen,
das Kind pressiert und wir haben noch weit."
"Nimmst's mit?"—"Läuft's dem Alm-Öhi fort?"—"Es ist nur ein
Wunder, dass es noch am Leben ist!"—"Und dazu noch so rotbackig!"
So tönte es von allen Seiten, und die Dete war froh, dass sie ohne
Verzug durchkam und keinen Bescheid geben musste und auch Heidi
kein Wort sagte, sondern nur immer vorwärts strebte in großem Eifer.
—
Von dem Tage an machte der Alm-Öhi, wenn er herunterkam und durchs
Dörfli ging, ein böseres Gesicht als je zuvor. Er grüßte keinen
Menschen und sah mit seinem Käsereff auf dem Rücken, mit dem
ungeheuren Stock in der Hand und den zusammengezogenen dicken
Brauen so drohend aus, dass die Frauen zu den kleinen Kindern
sagten: "Gib Acht! Geh dem Alm-Öhi aus dem Weg, er könnte dir noch
etwas tun!"
Der Alte verkehrte mit keinem Menschen im Dörfli, er ging nur durch
und weit ins Tal hinab, wo er seinen Käse verhandelte und seine
Vorräte an Brot und Fleisch einnahm. Wenn er so vorbeigegangen war
im Dörfli, dann standen hinter ihm die Leute alle in Trüppchen
zusammen, und jeder wusste etwas Besonderes, was er am Alm-Öhi
gesehen hatte, wie er immer wilder aussehe und dass er jetzt keinem
Menschen mehr auch nur einen Gruß abnehme, und alle kamen darin
überein, dass es ein großes Glück sei, dass das Kind habe
entweichen können, und man habe auch wohl gesehen, wie es
fortgedrängt habe, so, als fürchte es, der Alte sei schon hinter
ihm drein, um es zurückzuholen. Nur die blinde Großmutter hielt
unverrückt zum Alm-Öhi, und wer zu ihr heraufkam, um bei ihr
spinnen zu lassen oder das Gesponnene zu holen, dem erzählte sie es
immer wieder, wie gut und sorgfältig der Alm-Öhi mit dem Kind
gewesen sei und was er an ihr und der Tochter getan habe, wie
manchen Nachmittag er an ihrem Häuschen herumgeflickt, das ohne
seine Hilfe gewiss schon zusammengefallen wäre. So kamen denn auch
diese Berichte ins Dörfli herunter; aber die meisten, die sie
vernahmen, sagten dann, die Großmutter sei vielleicht zu alt zum
Begreifen, sie werde es wohl nicht recht verstanden haben, sie
werde wohl auch nicht mehr gut hören, weil sie nichts mehr sehe.
Der Alm-Öhi zeigte sich jetzt nicht mehr bei den Geißenpeters; es
war gut, dass er die Hütte so fest zusammengenagelt hatte, denn sie
blieb für lange Zeit ganz unberührt. Jetzt begann die blinde
Großmutter ihre Tage wieder mit Seufzen, und nicht einer verstrich,
an dem sie nicht klagend sagte: "Ach, mit dem Kind ist alles Gute
und alle Freude von uns genommen, und die Tage sind so leer! Wenn
ich nur noch einmal das Heidi hören könnte, eh ich sterben muss!"
Ein neues Kapitel und lauter neue Dinge
Im Hause des Herrn Sesemann in Frankfurt lag das kranke Töchterlein,
Klara, in dem bequemen Rollstuhl, in welchem es den ganzen Tag
sich aufhielt und von einem Zimmer ins andere gestoßen wurde.
Jetzt saß es im so genannten Studierzimmer, das neben der großen
Essstube lag und wo vielerlei Gerätschaften herumstanden und—lagen,
die das Zimmer wohnlich machten und zeigten, dass man hier
gewöhnlich sich aufhielt. An dem großen, schönen Bücherschrank mit
den Glastüren konnte man sehen, woher das Zimmer seinen Namen hatte
und dass es wohl der Raum war, wo dem lahmen Töchterchen der
tägliche Unterricht erteilt wurde.
Klara hatte ein blasses, schmales Gesichtchen, aus dem zwei milde,
blaue Augen herausschauten, die in diesem Augenblick auf die große
Wanduhr gerichtet waren, die heute besonders langsam zu gehen
schien, denn Klara, die sonst kaum ungeduldig wurde, sagte jetzt
mit ziemlicher Ungeduld in der Stimme: "Ist es denn immer noch
nicht Zeit, Fräulein Rottenmeier?"
Die Letztere saß sehr aufrecht an einem kleinen Arbeitstisch und
stickte. Sie hatte eine geheimnisvolle Hülle um sich, einen großen
Kragen oder Halbmantel, welcher der Persönlichkeit einen
feierlichen Anstrich verlieh, der noch erhöht wurde durch eine Art
von hoch gebauter Kuppel, die sie auf dem Kopf trug. Fräulein
Rottenmeier war schon seit mehreren Jahren, seitdem die Dame des
Hauses gestorben war, im Hause Sesemann, führte die Wirtschaft und
hatte die Oberaufsicht über das ganze Dienstpersonal.
Herr Sesemann war meistens auf Reisen, überließ daher dem Fräulein
Rottenmeier das ganze Haus, nur mit der Bedingung, dass sein
Töchterlein in allem eine Stimme haben solle und nichts gegen
dessen Wunsch geschehen dürfe.
Während oben Klara zum zweiten Mal mit Zeichen der Ungeduld
Fräulein Rottenmeier befragte, ob die Zeit noch nicht da sei, da
die Erwarteten erscheinen konnten, stand unten vor der Haustür die
Dete mit Heidi an der Hand und fragte den Kutscher Johann, der eben
vom Wagen gestiegen war, ob sie wohl Fräulein Rottenmeier so spät
noch stören dürfe.
"Das ist nicht meine Sache", brummte der Kutscher; "klingeln Sie
den Sebastian herunter, drinnen im Korridor."
Dete tat, wie ihr geheißen war, und der Bediente des Hauses kam die
Treppe herunter mit großen, runden Knöpfen auf seinem Aufwärterrock
und fast ebenso großen runden Augen im Kopfe.
"Ich wollte fragen, ob ich um diese Zeit Fräulein Rottenmeier noch
stören dürfe", brachte die Dete wieder an.
"Das ist nicht meine Sache", gab der Bediente zurück; "klingeln Sie
die Jungfer Tinette herunter an der anderen Klingel", und ohne
weitere Auskunft verschwand der Sebastian.
Dete klingelte wieder. Jetzt erschien auf der Treppe die Jungfer
Tinette mit einem blendend weißen Deckelchen auf der Mitte des
Kopfes und einer spöttischen Miene auf dem Gesicht.
"Was ist?", fragte sie auf der Treppe, ohne herunterzukommen. Dete
wiederholte ihr Gesuch. Jungfer Tinette verschwand, kam aber bald
wieder und rief von der Treppe herunter: "Sie sind erwartet!"
Jetzt stieg Dete mit Heidi die Treppe hinauf und trat, der Jungfer
Tinette folgend, in das Studierzimmer ein. Hier blieb Dete höflich
an der Tür stehen, Heidi immer fest an der Hand haltend, denn sie
war gar nicht sicher, was dem Kinde etwa begegnen konnte auf diesem
so fremden Boden.
Fräulein Rottenmeier erhob sich langsam von ihrem Sitz und kam
näher, um die angekommene Gespielin der Tochter des Hauses zu
betrachten. Der Anblick schien sie nicht zu befriedigen. Heidi
hatte sein einfaches Baumwollröckchen an und sein altes,
zerdrücktes Strohhütchen auf dem Kopf. Das Kind guckte sehr
harmlos darunter hervor und betrachtete mit unverhehlter
Verwunderung den Turmbau auf dem Kopf der Dame.
"Wie heißest du?", fragte Fräulein Rottenmeier, nachdem auch sie
einige Minuten lang forschend das Kind angesehen hatte, das kein
Auge von ihr verwandte.
"Heidi", antwortete es deutlich und mit klangvoller Stimme.
"Wie? Wie? Das soll doch wohl kein christlicher Name sein? So
bist du doch nicht getauft worden. Welchen Namen hast du in der
Taufe erhalten?", fragte Fräulein Rottenmeier weiter.
"Das weiß ich jetzt nicht mehr", entgegnete Heidi.
"Ist das eine Antwort!", bemerkte die Dame mit Kopfschütteln.
"Jungfer Dete, ist das Kind einfältig oder schnippisch?"
"Mit Erlaubnis und wenn es die Dame gestattet, so will ich gern
reden für das Kind, denn es ist sehr unerfahren", sagte die Dete,
nachdem sie dem Heidi heimlich einen kleinen Stoß gegeben hatte für
die unpassende Antwort.
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