Das wusste der Großvater wohl und hielt das Kind ganz
warm in seinem Arm.
So ging der Winter dahin. In das freudlose Leben der blinden
Großmutter war nach langen Jahren eine Freude gefallen und ihre
Tage waren nicht mehr lang und dunkel, einer wie der andere, denn
nun hatte sie immer etwas in Aussicht, nach dem sie verlangen
konnte. Vom frühen Morgen an lauschte sie auch schon auf den
trippelnden Schritt, und ging dann die Tür auf und das Kind kam
wirklich dahergesprungen, dann rief sie jedes Mal in lauter Freude:
"Gottlob! Da kommt's wieder!" Und Heidi setzte sich zu ihr und
plauderte und erzählte so lustig von allem, was es wusste, dass es
der Großmutter ganz wohl machte und ihr die Stunden dahingingen,
sie merkte es nicht, und kein einziges Mal fragte sie mehr so wie
früher: "Brigitte, ist der Tag noch nicht um?", sondern jedes Mal,
wenn Heidi die Tür hinter sich schloss, sagte sie: "Wie war doch
der Nachmittag so kurz; ist es nicht wahr, Brigitte?" Und diese
sagte: "Doch sicher, es ist mir, wir haben erst die Teller vom
Essen weggestellt." Und die Großmutter sagte wieder: "Wenn mir nur
der Herrgott das Kind erhält und dem Alm-Öhi den guten Willen!
Sieht es auch gesund aus, Brigitte?" Und jedes Mal erwiderte diese:
"Es sieht aus wie ein Erdbeerapfel."
Heidi hatte auch eine große Anhänglichkeit an die alte Großmutter,
und wenn es ihm wieder in den Sinn kam, dass ihr gar niemand, auch
der Großvater nicht mehr hell machen konnte, überkam es immer
wieder eine große Betrübnis; aber die Großmutter sagte ihm immer
wieder, dass sie am wenigsten davon leide, wenn es bei ihr sei, und
Heidi kam auch an jedem schönen Wintertag heruntergefahren auf
seinem Schlitten. Der Großvater hatte, ohne weitere Worte, so
fortgefahren, hatte jedes Mal den Hammer und allerlei andere Sachen
mit aufgeladen und manchen Nachmittag durch an dem Geißenpeter-
Häuschen herumgeklopft. Das hatte aber auch seine gute Wirkung; es
krachte und klapperte nicht mehr die ganzen Nächte durch, und die
Großmutter sagte, so habe sie manchen Winter lang nicht mehr
schlafen können, das wolle sie auch dem Öhi nie vergessen.
Es kommt ein Besuch und dann noch einer, der mehr Folgen hat
Schnell war der Winter und noch schneller der fröhliche Sommer
darauf vergangen, und ein neuer Winter neigte sich schon wieder dem
Ende zu. Heidi war glücklich und froh wie die Vöglein des Himmels
und freute sich jeden Tag mehr auf die herannahenden Frühlingstage,
da der warme Föhn durch die Tannen brausen und den Schnee wegfegen
würde und dann die helle Sonne die blauen und gelben Blümlein
hervorlocken und die Tage der Weide kommen würden, die für Heidi
das Schönste mit sich brachten, was es auf Erden geben konnte.
Heidi stand nun in seinem achten Jahre; es hatte vom Großvater
allerlei Kunstgriffe erlernt: Mit den Geißen wusste es so gut
umzugehen als nur einer, und Schwänli und Bärli liefen ihm nach wie
treue Hündlein und meckerten gleich laut vor Freude, wenn sie nur
seine Stimme hörten. In diesem Winter hatte Peter schon zweimal
vom Schullehrer im Dörfli den Bericht gebracht, der Alm-Öhi solle
das Kind, das bei ihm sei, nun in die Schule schicken, es habe
schon mehr als das Alter und hätte schon im letzten Winter kommen
sollen. Der Öhi hatte beide Male dem Schullehrer sagen lassen,
wenn er etwas mit ihm wolle, so sei er daheim, das Kind schicke er
nicht in die Schule. Diesen Bericht hatte der Peter richtig
überbracht.
Als die Märzsonne den Schnee an den Abhängen geschmolzen hatte und
überall die weißen Schneeglöckchen hervorguckten im Tal und auf der
Alm die Tannen ihre Schneelast abgeschüttelt hatten und die Äste
wieder lustig wehten, da rannte Heidi vor Wonne immer hin und her
von der Haustür zum Geißenstall und von da unter die Tannen und
dann wieder hinein zum Großvater, um ihm zu berichten, wie viel
größer das Stück grüner Boden unter den Bäumen wieder geworden sei,
und gleich nachher kam es wieder nachzusehen, denn es konnte nicht
erwarten, dass alles wieder grün wurde und der ganze schöne Sommer
mit Grün und Blumen wieder auf die Alm gezogen kam.
Als Heidi so am sonnigen Märzmorgen hin und her rannte und jetzt
wohl zum zehnten Mal über die Türschwelle sprang, wäre es vor
Schrecken fast rückwärts wieder hineingefallen, denn auf einmal
stand es vor einem schwarzen alten Herrn, der es ganz ernsthaft
anblickte. Als er aber seinen Schrecken sah, sagte er freundlich:
"Du musst nicht erschrecken vor mir, die Kinder sind mir lieb. Gib
mir die Hand! Du wirst das Heidi sein; wo ist der Großvater?"
"Er sitzt am Tisch und schnitzt runde Löffel von Holz", erklärte
Heidi und machte nun die Tür wieder auf.
Es war der alte Herr Pfarrer aus dem Dörfli, der den Öhi vor Jahren
gut gekannt hatte, als er noch unten wohnte und sein Nachbar war.
Er trat in die Hütte ein, ging auf den Alten zu, der sich über sein
Schnitzwerk hinbeugte, und sagte: "Guten Morgen, Nachbar."
Verwundert schaute dieser in die Höhe, stand dann auf und
entgegnete: "Guten Morgen dem Herrn Pfarrer." Dann stellte er
seinen Stuhl vor den Herrn hin und fuhr fort: "Wenn der Herr
Pfarrer einen Holzsitz nicht scheut, hier ist einer."
Der Herr Pfarrer setzte sich. "Ich habe Euch lange nicht gesehen,
Nachbar", sagte er dann.
"Ich den Herrn Pfarrer auch nicht", war die Antwort.
"Ich komme heut, um etwas mit Euch zu besprechen", fing der Herr
Pfarrer wieder an; "ich denke, Ihr könnt schon wissen, was meine
Angelegenheit ist, worüber ich mich mit Euch verständigen und hören
will, was Ihr im Sinne habt."
Der Herr Pfarrer schwieg und schaute auf Heidi, das an der Tür
stand und die neue Erscheinung aufmerksam betrachtete.
"Heidi, geh zu den Geißen", sagte der Großvater. "Kannst ein wenig
Salz mitnehmen und bei ihnen bleiben, bis ich auch komme."
Heidi verschwand sofort.
"Das Kind hätte schon vor dem Jahr und noch sicherer diesen Winter
die Schule besuchen sollen", sagte nun der Herr Pfarrer; "der
Lehrer hat Euch mahnen lassen, Ihr habt keine Antwort darauf
gegeben; was habt Ihr mit dem Kind im Sinn, Nachbar?"
"Ich habe im Sinn, es nicht in die Schule zu schicken", war die
Antwort.
Verwundert schaute der Herr Pfarrer auf den Alten, der mit
gekreuzten Armen auf seiner Bank saß und gar nicht nachgiebig
aussah.
"Was wollt Ihr aus dem Kinde machen?", fragte jetzt der Herr
Pfarrer.
"Nichts, es wächst und gedeiht mit den Geißen und den Vögeln; bei
denen ist es ihm wohl und es lernt nichts Böses von ihnen."
"Aber das Kind ist keine Geiß und kein Vogel, es ist ein
Menschenkind. Wenn es nichts Böses lernt von diesen seinen
Kameraden, so lernt es auch sonst nichts von ihnen; es soll aber
etwas lernen, und die Zeit dazu ist da. Ich bin gekommen, es Euch
zeitig zu sagen, Nachbar, damit Ihr Euch besinnen und einrichten
könnt den Sommer durch. Dies war der letzte Winter, den das Kind
so ohne allen Unterricht zugebracht hat; nächsten Winter kommt es
zur Schule, und zwar jeden Tag."
"Ich tu's nicht, Herr Pfarrer", sagte der Alte unentwegt.
"Meint Ihr denn wirklich, es gebe kein Mittel, Euch zur Vernunft zu
bringen, wenn Ihr so eigensinnig bei Eurem unvernünftigen Tun
beharren wollt?", sagte der Herr Pfarrer jetzt ein wenig eifrig.
"Ihr seid weit in der Welt herumgekommen und habt viel gesehen und
vieles lernen können, ich hätte Euch mehr Einsicht zugetraut,
Nachbar."
"So", sagte jetzt der Alte und seine Stimme verriet, dass es auch
in seinem Innern nicht mehr so ganz ruhig war; "und meint denn der
Herr Pfarrer, ich werde wirklich im nächsten Winter am eisigen
Morgen durch Sturm und Schnee ein zartgliedriges Kind den Berg
hinunterschicken, zwei Stunden weit, und zur Nacht wieder
heraufkommen lassen, wenn's manchmal tobt und tut, dass unsereiner
fast in Wind und Schnee ersticken müsste, und dann ein Kind wie
dieses? Und vielleicht kann sich der Herr Pfarrer auch noch der
Mutter erinnern, der Adelheid; sie war mondsüchtig und hatte
Zufälle, soll das Kind auch so etwas holen mit der Anstrengung? Es
soll mir einer kommen und mich zwingen wollen! Ich gehe vor alle
Gerichte mit ihm, und dann wollen wir sehen, wer mich zwingt!"
"Ihr habt ganz Recht, Nachbar", sagte der Herr Pfarrer mit
Freundlichkeit; "es wäre nicht möglich, das Kind von hier aus zur
Schule zu schicken. Aber ich kann sehen, das Kind ist Euch lieb;
tut um seinetwillen etwas, das Ihr schon lange hättet tun sollen,
kommt wieder ins Dörfli herunter und lebt wieder mit den Menschen.
Was ist das für ein Leben hier oben, allein und verbittert gegen
Gott und Menschen! Wenn Euch einmal etwas zustoßen würde hier oben,
wer würde Euch beistehen? Ich kann auch gar nicht begreifen, dass
Ihr den Winter durch nicht halb erfriert in Eurer Hütte, und wie
das zarte Kind es nur aushalten kann!"
"Das Kind hat junges Blut und eine gute Decke, das möchte ich dem
Herrn Pfarrer sagen, und dann noch eins: Ich weiß, wo es Holz gibt,
und auch, wann die gute Zeit ist, es zu holen; der Herr Pfarrer
darf in meinen Schopf hineingehen, es ist etwas drin, in meiner
Hütte geht das Feuer nie aus den Winter durch. Was der Herr
Pfarrer mit dem Herunterkommen meint, ist nicht für mich; die
Menschen da unten verachten mich und ich sie auch, wir bleiben
voneinander, so ist's beiden wohl."
"Nein, nein, es ist Euch nicht wohl; ich weiß, was Euch fehlt",
sagte der Herr Pfarrer mit herzlichem Ton. "Mit der Verachtung der
Menschen dort unten ist es so schlimm nicht. Glaubt mir, Nachbar:
Sucht Frieden mit Eurem Gott zu machen, bittet um seine Verzeihung,
wo Ihr sie nötig habt, und dann kommt und seht, wie anders Euch die
Menschen ansehen und wie wohl es Euch noch werden kann."
Der Herr Pfarrer war aufgestanden, er hielt dem Alten die Hand hin
und sagte nochmals mit Herzlichkeit: "Ich zähle darauf, Nachbar, im
nächsten Winter seid Ihr wieder unten bei uns und wir sind die
alten, guten Nachbarn. Es würde mir großen Kummer machen, wenn ein
Zwang gegen Euch müsste angewandt werden; gebt mir jetzt die Hand
darauf, dass ihr herunterkommt und wieder unter uns leben wollt,
ausgesöhnt mit Gott und den Menschen."
Der Alm-Öhi gab dem Herrn Pfarrer die Hand und sagte fest und
bestimmt: "Der Herr Pfarrer meint es recht mit mir; aber was er
erwartet, das tu ich nicht, ich sag es sicher und ohne Wandel: Das
Kind schick ich nicht, und herunter komm ich nicht."
"So helf Euch Gott!", sagte der Herr Pfarrer und ging traurig zur
Tür hinaus und den Berg hinunter.
Der Alm-Öhi war verstimmt. Als Heidi am Nachmittag sagte: "Jetzt
wollen wir zur Großmutter", erwiderte er kurz: "Heut nicht." Den
ganzen Tag sprach er nicht mehr, und am folgenden Morgen, als Heidi
fragte: "Gehen wir heut zur Großmutter?", war er noch gleich kurz
von Worten wie im Ton und sagte nur: "Wollen sehen." Aber noch
bevor die Schüsselchen vom Mittagessen weggestellt waren, trat
schon wieder ein Besuch zur Tür herein, es war die Base Dete. Sie
hatte einen schönen Hut auf dem Kopf mit einer Feder darauf und ein
Kleid, das alles mitfegte, was am Boden lag, und in der Sennhütte
lag da allerlei, das nicht an ein Kleid gehörte. Der Öhi schaute
sie an von oben bis unten und sagte kein Wort. Aber die Base Dete
hatte im Sinn, ein sehr freundliches Gespräch zu führen, denn sie
fing an zu rühmen und sagte, das Heidi sehe so gut aus, sie habe es
fast nicht mehr gekannt und man könne schon sehen, dass es ihm
nicht schlecht gegangen sei beim Großvater. Sie habe aber gewiss
auch immer darauf gedacht, es ihm wieder abzunehmen, denn sie habe
ja schon begreifen können, dass ihm das Kleine im Weg sein müsse,
aber in jenem Augenblick habe sie es ja nirgends sonst hintun
können; seitdem aber habe sie Tag und Nacht nachgesonnen, wo sie
das Kind etwa unterbringen könnte, und deswegen komme sie auch
heute, denn auf einmal habe sie etwas vernommen, da könne das Heidi
zu einem solchen Glück kommen, dass sie es gar nicht habe glauben
wollen. Dann sei sie aber auf der Stelle der Sache nachgegangen,
und nun könne sie sagen, es sei alles so gut wie in Richtigkeit,
das Heidi komme zu einem Glück wie unter Hunderttausenden nicht
eines. Furchtbar reiche Verwandte von ihrer Herrschaft, die fast
im schönsten Haus in ganz Frankfurt wohnen, die haben ein einziges
Töchterlein, das müsse immer im Rollstuhl sitzen, denn es sei auf
einer Seite lahm und sonst nicht gesund, und so sei es fast immer
allein und müsse auch allen Unterricht allein nehmen bei einem
Lehrer, und das sei ihm so langweilig, und auch sonst hätte es gern
eine Gespielin im Haus, und da haben sie so davon geredet bei ihrer
Herrschaft, und wenn man nur so ein Kind finden könnte, wie die
Dame beschrieb, die in dem Haus die Wirtschaft führte, denn ihre
Herrschaft habe viel Mitgefühl und möchte dem kranken Töchterlein
eine gute Gespielin gönnen. Die Wirtschaftsdame hatte nun gesagt,
sie wolle so ein recht unverdorbenes, so ein eigenartiges, das
nicht sei wie alle, die man so alle Tage sehe. Da habe sie selbst
denn auf der Stelle an das Heidi gedacht und sei gleich hingelaufen
und habe der Dame alles so beschrieben vom Heidi und so von seinem
Charakter, und die Dame habe sogleich zugesagt.
1 comment