Eigentlich war die Sache für
Fräulein Rottenmeier selbst sehr wünschbar, denn sie wollte gern,
dass jemand da sei, der ihr die Unterhaltung der kranken Klara
abnehme, wenn es ihr zu viel war, was öfters geschah. Herr
Sesemann hatte geantwortet, er erfülle gern den Wunsch seiner
Tochter, doch mit der Bedingung, dass eine solche Gespielin in
allem ganz gehalten werde wie jene, er wolle keine Kinderquälerei
in seinem Hause—"was freilich eine sehr unnütze Bemerkung von dem
Herrn war", setzte Fräulein Rottenmeier hinzu, "denn wer wollte
Kinder quälen!" Nun aber erzählte sie weiter, wie ganz
erschrecklich sie hineingefallen sei mit dem Kinde, und führte alle
Beispiele von seinem völlig begriffslosen Dasein an, die es bis
jetzt geliefert hatte, dass nicht nur der Unterricht des Herrn
Kandidaten buchstäblich beim Abc anfangen müsse, sondern dass auch
sie auf jedem Punkte der menschlichen Erziehung mit dem Uranfang zu
beginnen hätte. Aus dieser unheilvollen Lage sehe sie nur ein
Rettungsmittel: Wenn der Herr Kandidat erklären werde, zwei so
verschiedene Wesen könnten nicht miteinander unterrichtet werden
ohne großen Schaden des vorgerückteren Teiles; das wäre für Herrn
Sesemann ein triftiger Grund, die Sache rückgängig zu machen, und
so würde er zugeben, dass das Kind gleich wieder dahin
zurückgeschickt würde, woher es gekommen war; ohne seine Zustimmung
aber dürfte sie das nicht unternehmen, nun der Hausherr wisse, dass
das Kind angekommen sei. Aber der Herr Kandidat war behutsam und
niemals einseitig im Urteilen. Er tröstete Fräulein Rottenmeier
mit vielen Worten und der Ansicht, wenn die junge Tochter auf der
einen Seite so zurück sei, so möchte sie auf der anderen umso
geförderter sein, was bei einem geregelten Unterricht bald ins
Gleichgewicht kommen werde. Als Fräulein Rottenmeier sah, dass der
Herr Kandidat sie nicht unterstützen, sondern seinen Abc-Unterricht
übernehmen wollte, machte sie ihm die Tür zum Studierzimmer auf,
und nachdem er hereingetreten war, schloss sie schnell hinter ihm
zu und blieb auf der anderen Seite, denn vor dem Abc hatte sie
einen Schrecken. Sie ging jetzt mit großen Schritten im Zimmer auf
und nieder, denn sie hatte zu überlegen, wie die Dienstboten
Adelheid zu benennen hätten. Herr Sesemann hatte ja geschrieben,
sie müsste wie seine Tochter gehalten werden, und dieses Wort
musste sich hauptsächlich auf das Verhältnis zu den Dienstboten
beziehen, dachte Fräulein Rottenmeier. Sie konnte aber nicht lange
ungestört überlegen, denn auf einmal ertönte drinnen im
Studierzimmer ein erschreckliches Gekrache fallender Gegenstände
und dann ein Hilferuf nach Sebastian. Sie stürzte hinein. Da lag
auf dem Boden alles übereinander, die sämtlichen Studien-
Hilfsmittel, Bücher, Hefte, Tintenfass und obendrauf der
Tischteppich, unter dem ein schwarzes Tintenbächlein hervorfloss,
die ganze Stube entlang. Heidi war verschwunden.
"Da haben wir's", rief Fräulein Rottenmeier händeringend aus.
"Teppich, Bücher, Arbeitskorb, alles in der Tinte! Das ist noch
nie geschehen! Das ist das Unglückswesen, da ist kein Zweifel!"
Der Herr Kandidat stand sehr erschrocken da und schaute auf die
Verwüstung, die allerdings nur (eine) Seite hatte und eine recht
bestürzende. Klara dagegen verfolgte mit vergnügtem Gesicht die
ungewöhnlichen Ereignisse und deren Wirkungen und sagte nun
erklärend: "Ja, Heidi hat's gemacht, aber nicht mit Absicht, es
muss gewiss nicht gestraft werden, es war nur so schrecklich eilig,
fortzukommen, und riss den Teppich mit, und so fiel alles
hintereinander auf den Boden. Es fuhren viele Wagen hintereinander
vorbei, darum ist es so fortgeschossen; es hat vielleicht noch nie
eine Kutsche gesehen."
"Da, ist's nicht, wie ich sagte, Herr Kandidat? Nicht (einen)
Urbegriff hat das Wesen! Keine Ahnung davon, was eine
Unterrichtsstunde ist, dass man dabei zuzuhören und still zu sitzen
hat. Aber wo ist das Unheil bringende Ding hin? Wenn es
fortgelaufen wäre! Was würde mir Herr Sesemann—"
Fräulein Rottenmeier lief hinaus und die Treppe hinunter. Hier,
unter der geöffneten Haustür, stand Heidi und guckte ganz verblüfft
die Straße auf und ab.
"Was ist denn? Was fällt dir denn ein? Wie kannst du so
davonlaufen!", fuhr Fräulein Rottenmeier das Kind an.
"Ich habe die Tannen rauschen gehört, aber ich weiß nicht, wo sie
stehen, und höre sie nicht mehr", antwortete Heidi und schaute
enttäuscht nach der Seite hin, wo das Rollen der Wagen verhallt war,
das in Heidis Ohren dem Tosen des Föhns in den Tannen ähnlich
geklungen hatte, so dass es in höchster Freude dem Ton nachgerannt
war.
"Tannen! Sind wir im Wald? Was sind das für Einfälle! Komm
herauf und sieh, was du angerichtet hast!" Damit stieg Fräulein
Rottenmeier wieder die Treppe hinan; Heidi folgte ihr und stand nun
sehr verwundert vor der großen Verheerung, denn es hatte nicht
gemerkt, was es alles mitriss vor Freude und Eile, die Tannen zu
hören.
"Das hast du einmal getan, ein zweites Mal tust du's nicht wieder",
sagte Fräulein Rottenmeier, auf den Boden zeigend; "zum Lernen
sitzt man still auf seinem Sessel und gibt Acht. Kannst du das
nicht selbst fertig bringen, so muss ich dich an deinen Stuhl
festbinden. Kannst du das verstehen?"
"Ja", entgegnete Heidi, "aber ich will schon festsitzen." Denn
jetzt hatte es begriffen, dass es eine Regel ist, in einer
Unterrichtsstunde still zu sitzen.
Jetzt mussten Sebastian und Tinette hereinkommen, um die Ordnung
wiederherzustellen. Der Herr Kandidat entfernte sich, denn der
weitere Unterricht musste nun aufgegeben werden. Zum Gähnen war
heute gar keine Zeit gewesen.
Am Nachmittag musste Klara immer eine Zeit lang ruhen und Heidi
hatte alsdann seine Beschäftigung selbst zu wählen; so hatte
Fräulein Rottenmeier ihm am Morgen erklärt. Als nun nach Tisch
Klara sich in ihrem Sessel zur Ruhe gelegt hatte, ging Fräulein
Rottenmeier nach ihrem Zimmer, und Heidi sah, dass nun die Zeit da
war, da es seine Beschäftigung selbst wählen konnte. Das war dem
Heidi sehr erwünscht, denn es hatte schon immer im Sinn, etwas zu
unternehmen; es musste aber Hilfe dazu haben und stellte sich darum
vor das Esszimmer mitten auf den Korridor, damit die Persönlichkeit,
die es zu beraten gedachte, ihm nicht entgehen könne. Richtig,
nach kurzer Zeit kam Sebastian die Treppe herauf mit dem großen
Teebrett auf den Armen, denn er brachte das Silberzeug aus der
Küche herauf, um es im Schrank des Esszimmers zu verwahren. Als er
auf der letzten Stufe der Treppe angekommen war, trat Heidi vor ihn
hin und sagte mit großer Deutlichkeit: "Sie oder Er!"
Sebastian riss die Augen so weit auf, als es nur möglich war, und
sagte ziemlich barsch: "Was soll das heißen, Mamsell?"
"Ich möchte nur gern etwas fragen, aber es ist gewiss nichts Böses
wie heute Morgen", fügte Heidi beschwichtigend hinzu, denn es
merkte, dass Sebastian ein wenig erbittert war, und dachte, es
komme noch von der Tinte am Boden her.
"So, und warum muss es denn heißen Sie oder Er, das möcht ich
zuerst wissen", gab Sebastian im gleichen barschen Ton zurück.
"Ja, so muss ich jetzt immer sagen", versicherte Heidi; "Fräulein
Rottenmeier hat es befohlen."
Jetzt lachte Sebastian so laut auf, dass Heidi ihn ganz verwundert
ansehen musste, denn es hatte nichts Lustiges bemerkt; aber
Sebastian hatte auf einmal begriffen, was Fräulein Rottenmeier
befohlen hatte, und sagte nun sehr erlustigt: "Schon recht, so
fahre die Mamsell nur zu."
"Ich heiße gar nicht Mamsell", sagte nun Heidi seinerseits ein
wenig geärgert; "ich heiße Heidi."
"Ist schon recht; die gleiche Dame hat aber befohlen, dass ich
Mamsell sage", erklärte Sebastian.
"Hat sie? Ja, dann muss ich schon so heißen", sagte Heidi mit
Ergebung, denn es hatte wohl gemerkt, dass alles so geschehen
musste, wie Fräulein Rottenmeier befahl.
"Jetzt habe ich schon drei Namen", setzte es mit einem Seufzer
hinzu.
"Was wollte die kleine Mamsell denn fragen?", fragte Sebastian
jetzt, indem er, ins Esszimmer eingetreten, sein Silberzeug im
Schrank zurechtlegte.
"Wie kann man ein Fenster aufmachen, Sebastian?"
"So, gerade so", und er machte den großen Fensterflügel auf.
Heidi trat heran, aber es war zu klein, um etwas sehen zu können;
es langte nur bis zum Gesims hinauf.
"Da, so kann das Mamsellchen einmal hinausgucken und sehen, was
unten ist", sagte Sebastian, indem er einen hohen hölzernen Schemel
herbeigeholt hatte und hinstellte. Hoch erfreut stieg Heidi hinauf
und konnte endlich den ersehnten Blick durch das Fenster tun. Aber
mit dem Ausdruck der größten Enttäuschung zog es sogleich den Kopf
wieder zurück.
"Man sieht nur die steinerne Straße hier, sonst gar nichts", sagte
das Kind bedauerlich; "aber wenn man um das ganze Haus herumgeht,
was sieht man dann auf der anderen Seite, Sebastian?"
"Gerade dasselbe", gab dieser zur Antwort.
"Aber wohin kann man denn gehen, dass man weit, weit hinuntersehen
kann über das ganze Tal hinab?"
"Da muss man auf einen hohen Turm hinaufsteigen, einen Kirchturm,
so einen, wie der dort ist mit der goldenen Kugel oben drauf. Da
guckt man von oben herunter und sieht weit über alles weg."
Jetzt stieg Heidi eilig von seinem Schemel herunter, rannte zur Tür
hinaus, die Treppe hinunter und trat auf die Straße hinaus. Aber
die Sache ging nicht, wie Heidi sich vorgestellt hatte. Als es aus
dem Fenster den Turm gesehen hatte, kam es ihm vor, es könne nur
über die Straße gehen, so müsste er gleich vor ihm stehen. Nun
ging Heidi die ganze Straße hinunter, aber es kam nicht an den Turm,
konnte ihn auch nirgends mehr entdecken und kam nun in eine andere
Straße hinein und weiter und weiter, aber immer noch sah es den
Turm nicht.
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