Es gingen viele Leute an ihm vorbei, aber die waren alle so eilig, dass Heidi dachte, sie hätten nicht Zeit, ihm Bescheid zu geben. Jetzt sah es an der nächsten Straßenecke einen Jungen stehen, der eine kleine Drehorgel auf dem Rücken und ein ganz kurioses Tier auf dem Arme trug. Heidi lief zu ihm hin und fragte: "Wo ist der Turm mit der goldenen Kugel zuoberst?"

"Weiß nicht", war die Antwort.

"Wen kann ich denn fragen, wo er sei?", fragte Heidi weiter.

"Weiß nicht."

"Weißt du keine andere Kirche mit einem hohen Turm?"

"Freilich weiß ich eine."

"So komm und zeige mir sie."

"Zeig du zuerst, was du mir dafür gibst." Der Junge hielt seine Hand hin. Heidi suchte in seiner Tasche herum. Jetzt zog es ein Bildchen hervor, darauf ein schönes Kränzchen von roten Rosen gemalt war; erst sah es noch eine kleine Weile darauf hin, denn es reute Heidi ein wenig. Erst heute Morgen hatte Klara es ihm geschenkt; aber hinuntersehen ins Tal, über die grünen Abhänge! "Da", sagte Heidi und hielt das Bildchen hin, "willst du das?"

Der Junge zog die Hand zurück und schüttelte den Kopf.

"Was willst du denn?", fragte Heidi und steckte vergnügt sein
Bildchen wieder ein.

"Geld."

"Ich habe keins, aber Klara hat, sie gibt mir dann schon; wie viel willst du?"

"Zwanzig Pfennige."

"So komm jetzt."

Nun wanderten die beiden eine lange Straße hin, und auf dem Wege fragte Heidi den Begleiter, was er auf dem Rücken trage, und er erklärte ihm, es sei eine schöne Orgel unter dem Tuch, die mache eine prachtvolle Musik, wenn er daran drehe.

Auf einmal standen sie vor einer alten Kirche mit hohem Turm; der
Junge stand still und sagte: "Da."

"Aber wie komm ich da hinein?", fragte Heidi, als es die fest verschlossenen Türen sah.

"Weiß nicht", war wieder die Antwort.

"Glaubst du, man könne hier klingeln, so wie man dem Sebastian tut?"

"Weiß nicht."

Heidi hatte eine Klingel entdeckt an der Mauer und zog jetzt aus allen Kräften daran.

"Wenn ich dann hinaufgehe, so musst du warten hier unten, ich weiß jetzt den Weg nicht mehr zurück, du musst mir ihn dann zeigen."

"Was gibst du mir dann?"

"Was muss ich dir dann wieder geben?"

"Wieder zwanzig Pfennige."

Jetzt wurde das alte Schloss inwendig umgedreht und die knarrende Tür geöffnet; ein alter Mann trat heraus und schaute erst verwundert, dann ziemlich erzürnt auf die Kinder und fuhr sie an: "Was untersteht ihr euch, mich da herunterzuklingeln? Könnt ihr nicht lesen, was über der Klingel steht: 'Für solche, die den Turm besteigen wollen'?"

Der Junge wies mit dem Zeigefinger auf Heidi und sagte kein Wort.
Heidi antwortete: "Eben auf den Turm wollt ich."

"Was hast du droben zu tun?", fragte der Türmer; "hat dich jemand geschickt?"

"Nein", entgegnete Heidi, "ich möchte nur hinaufgehen, dass ich hinuntersehen kann."

"Macht, dass ihr heimkommt, und probiert den Spaß nicht wieder, oder ihr kommt nicht gut weg zum zweiten Mal!" Damit kehrte sich der Türmer um und wollte die Tür zumachen.

Aber Heidi hielt ihn ein wenig am Rockschoß und sagte bittend: "Nur ein einziges Mal!"

Er sah sich um, und Heidis Augen schauten so flehentlich zu ihm auf, dass es ihn ganz umstimmte; er nahm das Kind bei der Hand und sagte freundlich: "Wenn dir so viel daran gelegen ist, so komm mit mir!"

Der Junge setzte sich auf die steinernen Stufen vor der Tür nieder und zeigte, dass er nicht mitwollte.

Heidi stieg an der Hand des Türmers viele, viele Treppen hinauf; dann wurden diese immer schmäler, und endlich ging es noch ein ganz enges Treppchen hinauf, und nun waren sie oben. Der Türmer hob Heidi vom Boden auf und hielt es an das offene Fenster.

"Da, jetzt guck hinunter", sagte er.

Heidi sah auf ein Meer von Dächern, Türmen und Schornsteinen nieder; es zog bald seinen Kopf zurück und sagte niedergeschlagen: "Es ist gar nicht, wie ich gemeint habe."

"Siehst du wohl? Was versteht so ein Kleines von Aussicht! So, komm nun wieder herunter und läute nie mehr an einem Turm!"

Der Türmer stellte Heidi wieder auf den Boden und stieg ihm voran die schmalen Stufen hinab. Wo diese breiter wurden, kam links die Tür, die in des Türmers Stübchen führte, und nebenan ging der Boden bis unter das schräge Dach hin. Dort hinten stand ein großer Korb und davor saß eine dicke graue Katze und knurrte, denn in dem Korb wohnte ihre Familie und sie wollte jeden Vorübergehenden davor warnen, sich in ihre Familienangelegenheiten zu mischen. Heidi stand still und schaute verwundert hinüber, eine so mächtige Katze hatte es noch nie gesehen; in dem alten Turm wohnten aber ganze Herden von Mäusen, so holte sich die Katze ohne Mühe jeden Tag ein halbes Dutzend Mäusebraten. Der Türmer sah Heidis Bewunderung und sagte: "Komm, sie tut dir nichts, wenn ich dabei bin; du kannst die Jungen ansehen."

Heidi trat an den Korb heran und brach in ein großes Entzücken aus.

"Oh, die netten Tierlein! Die schönen Kätzchen!", rief es ein Mal ums andere und sprang hin und her um den Korb herum, um auch recht alle komischen Gebärden und Sprünge zu sehen, welche die sieben oder acht jungen Kätzchen vollführten, die in dem Korb rastlos übereinanderhin krabbelten, sprangen, fielen.

"Willst du eins haben?", fragte der Türmer, der Heidis
Freudensprüngen vergnügt zuschaute.

"Selbst für mich? Für immer?", fragte Heidi gespannt und konnte das große Glück fast nicht glauben.

"Ja, gewiss, du kannst auch noch mehr haben, du kannst sie alle zusammen haben, wenn du Platz hast", sagte der Mann, dem es gerade recht war, seine kleinen Katzen loszuwerden, ohne dass er ihnen ein Leid antun musste.

Heidi war im höchsten Glück. In dem großen Hause hatten ja die Kätzchen so viel Platz, und wie musste Klara erstaunt und erfreut sein, wenn die niedlichen Tierchen ankamen!

"Aber wie kann ich sie mitnehmen?", fragte nun Heidi und wollte schnell einige fangen mit seinen Händen, aber die dicke Katze sprang ihm auf den Arm und fauchte es so grimmig an, dass es sehr erschrocken zurückfuhr.

"Ich will sie dir bringen, sag nur, wohin", sagte der Türmer, der die alte Katze nun streichelte, um sie wieder gut zu machen, denn sie war seine Freundin und hatte schon viele Jahre mit ihm auf dem Turm gelebt.

"Zum Herrn Sesemann in dem großen Haus, wo an der Haustür ein goldener Hundskopf ist mit einem dicken Ring im Maul", erklärte Heidi.

Es hätte nicht einmal so viel gebraucht für den Türmer, der schon seit langen Jahren auf dem Turm saß und jedes Haus weithin kannte, und dazu war der Sebastian noch ein alter Bekannter von ihm.

"Ich weiß schon", bemerkte er; "aber wem muss ich die Dinger bringen, bei wem muss ich nachfragen, du gehörst doch nicht Herrn Sesemann?"

"Nein, aber die Klara, sie hat eine so große Freude, wenn die
Kätzchen kommen!"

Der Türmer wollte nun weitergehen, aber Heidi konnte sich von dem unterhaltenden Schauspiel fast nicht trennen.

"Wenn ich nur schon eins oder zwei mitnehmen könnte! Eins für mich und eins für Klara, kann ich nicht?"

"So wart ein wenig", sagte der Türmer, trug dann die alte Katze behutsam in sein Stübchen hinein und stellte sie an das Essschüsselchen hin, schloss die Tür vor ihr zu und kam zurück: "So, nun nimm zwei!"

Heidis Augen leuchteten vor Wonne. Es las ein weißes und dann ein gelb und weiß gestreiftes aus und steckte eins in die rechte und eins in die linke Tasche. Nun ging's die Treppe hinunter.

Der Junge saß noch auf den Stufen draußen, und als nun der Türmer hinter Heidi die Tür zugeschlossen hatte, sagte das Kind: "Welchen Weg müssen wir nun zu Herrn Sesemanns Haus?"

"Weiß nicht", war die Antwort.

Heidi fing nun an zu beschreiben, was es wusste, die Haustür und die Fenster und die Treppen, aber der Junge schüttelte zu allem den Kopf, es war ihm alles unbekannt.

"Siehst du", fuhr dann Heidi im Beschreiben fort, "aus einem
Fenster sieht man ein großes, großes, graues Haus und das Dach geht
so"—Heidi zeichnete hier mit dem Zeigefinger große Zacken in die
Luft hinaus.

Jetzt sprang der Junge auf, er mochte ähnliche Merkmale haben, seine Wege zu finden. Er lief nun in einem Zug drauflos und Heidi hinter ihm drein, und in kurzer Zeit standen sie richtig vor der Haustür mit dem großen Messing-Tierkopf. Heidi zog die Glocke. Bald erschien Sebastian, und wie er Heidi erblickte, rief er drängend: "Schnell! Schnell!"

Heidi sprang eilig herein, und Sebastian schlug die Tür zu; den
Jungen, der verblüfft draußen stand, hatte er gar nicht bemerkt.

"Schnell, Mamsellchen", drängte Sebastian weiter, "gleich ins
Esszimmer hinein, sie sitzen schon am Tisch. Fräulein Rottenmeier
sieht aus wie eine geladene Kanone; was stellt aber auch die kleine
Mamsell an, so fortzulaufen?"

Heidi war ins Zimmer getreten. Fräulein Rottenmeier blickte nicht auf; Klara sagte auch nichts, es war eine etwas unheimliche Stille. Sebastian rückte Heidi den Sessel zurecht. Jetzt, wie es auf seinem Stuhl saß, begann Fräulein Rottenmeier mit strengem Gesicht und einem ganz feierlich-ernsten Ton: "Adelheid, ich werde nachher mit dir sprechen, jetzt nur so viel: Du hast dich sehr ungezogen, wirklich strafbar benommen, dass du das Haus verlässt, ohne zu fragen, ohne dass jemand ein Wort davon wusste, und herumstreichst bis zum späten Abend; es ist eine völlig beispiellose Aufführung."

"Miau", tönte es wie als Antwort zurück.

Aber jetzt stieg der Zorn der Dame. "Wie, Adelheid", rief sie in immer höheren Tönen, "du unterstehst dich noch, nach aller Ungezogenheit einen schlechten Spaß zu machen? Hüte dich wohl, sag ich dir!"

"Ich mache", fing Heidi an—"Miau! Miau!"

Sebastian warf fast seine Schüssel auf den Tisch und stürzte hinaus.

"Es ist genug", wollte Fräulein Rottenmeier rufen; aber vor Aufregung tönte ihre Stimme gar nicht mehr. "Steh auf und verlass das Zimmer."

Heidi stand erschrocken von seinem Sessel auf und wollte noch einmal erklären: "Ich mache gewiss"—"Miau! Miau! Miau!"

"Aber Heidi", sagte jetzt Klara, "wenn du doch siehst, dass du Fräulein Rottenmeier so böse machst, warum machst du immer wieder 'miau'?"

"Ich mache nicht, die Kätzlein machen", konnte Heidi endlich ungestört hervorbringen.

"Wie? Was? Katzen? junge Katzen?", schrie Fräulein Rottenmeier auf. "Sebastian! Tinette! Sucht die greulichen Tiere! Schafft sie fort!" Damit stürzte die Dame ins Studierzimmer hinein und riegelte die Türen zu, um sicherer zu sein, denn junge Katzen waren für Fräulein Rottenmeier das Schrecklichste in der Schöpfung. Sebastian stand draußen vor der Tür und musste erst fertig lachen, eh er wieder eintreten konnte. Er hatte, als er Heidi bediente, einen kleinen Katzenkopf aus dessen Tasche herausgucken gesehen und sah dem Spektakel entgegen, und wie er nun ausbrach, konnte er sich nicht mehr halten, kaum noch seine Schüssel auf den Tisch setzen. Endlich trat er denn wieder gefasst ins Zimmer herein, nachdem die Hilferufe der geängsteten Dame schon längere Zeit verklungen waren. Jetzt sah es ganz still und friedlich aus drinnen; Klara hielt die Kätzchen auf ihrem Schoß, Heidi kniete neben ihr und beide spielten mit großer Wonne mit den zwei winzigen, graziösen Tierchen.

"Sebastian", sagte Klara zu dem Eintretenden, "Sie müssen uns helfen; Sie müssen ein Nest finden für die Kätzchen, wo Fräulein Rottenmeier sie nicht sieht, denn sie fürchtet sich vor ihnen und will sie forthaben; aber wir wollen die niedlichen Tierchen behalten und sie immer hervorholen, sobald wir allein sind. Wo kann man sie hintun?"

"Das will ich schon besorgen, Fräulein Klara", entgegnete Sebastian bereitwillig; "ich mache ein schönes Bettchen in einem Korb und stelle den an einen Ort, wo mir die furchtsame Dame nicht dahinter kommt, verlassen Sie sich auf mich." Sebastian ging gleich an die Arbeit und kicherte beständig vor sich hin, denn er dachte: "Das wird noch was absetzen!", und der Sebastian sah es nicht ungern, wenn Fräulein Rottenmeier ein wenig in Aufregung geriet.

Nach längerer Zeit erst, als der Augenblick des Schlafengehens nahte, machte Fräulein Rottenmeier ein ganz klein wenig die Tür auf und rief durch das Spältchen heraus: "Sind die abscheulichen Tiere fortgeschafft?"

"Jawohl! Jawohl!", gab Sebastian zurück, der sich im Zimmer zu schaffen gemacht hatte in Erwartung dieser Frage. Schnell und leise fasste er die beiden Kätzchen auf Klaras Schoß und verschwand damit.

Die besondere Strafrede, die Fräulein Rottenmeier Heidi noch zu halten gedachte, verschob sie auf den folgenden Tag, denn heute fühlte sie sich zu erschöpft nach all den vorhergegangenen Gemütsbewegungen von Ärger, Zorn und Schrecken, die ihr Heidi ganz unwissentlich nacheinander verursacht hatte. Sie zog sich schweigend zurück, und Klara und Heidi folgten vergnügt nach, denn sie wussten ihre Kätzchen in einem guten Bett.

Im Hause Sesemann geht's unruhig zu

Als Sebastian am folgenden Morgen dem Herrn Kandidaten die Haustür geöffnet und ihn zum Studierzimmer geführt hatte, zog schon wieder jemand die Hausglocke an, aber mit solcher Gewalt, dass Sebastian die Treppe völlig hinunterschoss, denn er dachte: "So schellt nur der Herr Sesemann selbst, er muss unerwartet nach Hause gekommen sein." Er riss die Tür auf—ein zerlumpter Junge mit einer Drehorgel auf dem Rücken stand vor ihm.

"Was soll das heißen?", fuhr ihn Sebastian an. "Ich will dich lehren, Glocken herunterzureißen! Was hast du hier zu tun?"

"Ich muss zur Klara", war die Antwort.

"Du ungewaschener Straßenkäfer du; kannst du nicht sagen '
Fräulein Klara', wie unsereins tut? Was hast du bei Fräulein
Klara zu tun?", fragte Sebastian barsch.

"Sie ist mir vierzig Pfennige schuldig", erklärte der Junge.

"Du bist, denk ich, nicht recht im Kopf! Wie weißt du überhaupt, dass ein Fräulein Klara hier ist?"

"Gestern habe ich ihr den Weg gezeigt, macht zwanzig, und dann wieder zurück den Weg gezeigt, macht vierzig."

"Da siehst du, was für Zeug du zusammenflunkerst; Fräulein Klara geht niemals aus, kann gar nicht gehen, mach, dass du dahin kommst, wo du hingehörst, bevor ich dir dazu verhelfe!"

Aber der Junge ließ sich nicht einschüchtern; er blieb unbeweglich stehen und sagte trocken: "Ich habe sie doch gesehen auf der Straße, ich kann sie beschreiben: Sie hat kurzes, krauses Haar, das ist schwarz, und die Augen sind schwarz und der Rock ist braun, und sie kann nicht reden wie wir."

"Oho", dachte jetzt Sebastian und kicherte in sich hinein, "das ist die kleine Mamsell, die hat wieder etwas angestellt." Dann sagte er, den Jungen hereinziehend: "'s ist schon recht, komm mir nur nach und warte vor der Tür, bis ich wieder herauskomme. Wenn ich dich dann einlasse, kannst du gleich etwas spielen; das Fräulein hört es gern."

Oben klopfte er am Studierzimmer und wurde hereingerufen.

"Es ist ein Junge da, der durchaus an Fräulein Klara selbst etwas zu bestellen hat", berichtete Sebastian.

Klara war sehr erfreut über das außergewöhnliche Ereignis.

"Er soll nur gleich hereinkommen", sagte sie, "nicht wahr, Herr
Kandidat, wenn er doch mit mir selbst sprechen muss."

Der Junge war schon eingetreten, und nach Anweisung fing er sofort seine Orgel zu drehen an. Fräulein Rottenmeier hatte, um dem Abc auszuweichen, sich im Esszimmer allerlei zu schaffen gemacht. Auf einmal horchte sie auf.—Kamen die Töne von der Straße her? Aber so nahe? Wie konnte vom Studierzimmer her eine Drehorgel ertönen? Und dennoch—wahrhaftig—sie stürzte durch das lange Esszimmer und riss die Tür auf.