Jetzt brach sie los.
"Was ist das für ein Aufzug? Was heißt das überhaupt? Habe ich
dir nicht streng verboten, je wieder herumzustreichen? Nun
probierst du's doch wieder und dazu noch völlig aussehend wie eine
Landstreicherin."
"Ich wollte nicht herumstreichen, ich wollte nur heimgehen",
entgegnete Heidi erschrocken.
"Wie? Was? Heimgehen? Heimgehen wolltest du?" Fräulein
Rottenmeier schlug die Hände zusammen vor Aufregung. "Fortlaufen!
Wenn das Herr Sesemann wüsste! Fortlaufen aus seinem Hause! Mach
nicht, dass er das je erfährt! Und was ist dir denn nicht recht in
seinem Hause? Wirst du nicht viel besser behandelt, als du
verdienst? Fehlt es dir an irgendetwas? Hast du je in deinem
ganzen Leben eine Wohnung oder einen Tisch oder eine Bedienung
gehabt, wie du hier hast? Sag!"
"Nein", entgegnete Heidi.
"Das weiß ich wohl!", fuhr die Dame eifrig fort. "Nichts fehlt dir,
gar nichts, du bist ein ganz unglaublich undankbares Kind, und vor
lauter Wohlsein weißt du nicht, was du noch alles anstellen willst!"
Aber jetzt kam dem Heidi alles obenauf, was in ihm war, und brach
hervor: "Ich will ja nur heim, und wenn ich so lang nicht komme, so
muss das Schneehöppli immer klagen, und die Großmutter erwartet
mich, und der Distelfink bekommt die Rute, wenn der Geißenpeter
keinen Käse bekommt, und hier kann man gar nie sehen, wie die Sonne
gute Nacht sagt zu den Bergen; und wenn der Raubvogel in Frankfurt
obenüber fliegen würde, so würde er noch viel lauter krächzen, dass
so viele Menschen beieinander sitzen und einander bös machen und
nicht auf den Felsen gehen, wo es einem wohl ist."
"Barmherzigkeit, das Kind ist übergeschnappt!", rief Fräulein
Rottenmeier aus und stürzte mit Schrecken die Treppe hinauf, wo sie
sehr unsanft gegen den Sebastian rannte, der eben hinunter wollte.
"Holen Sie auf der Stelle das unglückliche Wesen herauf!", rief sie
ihm zu, indem sie sich den Kopf rieb, denn sie war hart angestoßen.
"Ja, ja, schon recht, danke schön", gab Sebastian zurück und rieb
sich den seinen, denn er war noch härter angefahren.
Heidi stand mit flammenden Augen noch auf derselben Stelle fest und
zitterte vor innerer Erregung am ganzen Körper.
"Na, schon wieder was angestellt?", fragte Sebastian lustig; als er
aber Heidi, das sich nicht rührte, recht ansah, klopfte er ihm
freundlich auf die Schulter und sagte tröstend: "Pah! Pah! Das
muss sich das Mamsellchen nicht so zu Herzen nehmen, nur lustig,
das ist die Hauptsache! Sie hat mir eben jetzt auch fast ein Loch
in den Kopf gerannt; aber nur nicht einschüchtern lassen! Na?
Immer noch auf demselben Fleck? Wir müssen hinauf, sie hat's
befohlen."
Heidi ging nun die Treppe hinauf, aber langsam und leise und gar
nicht, wie sonst seine Art war. Das tat dem Sebastian Leid zu
sehen; er ging hinter dem Heidi her und sprach ermutigende Worte zu
ihm: "Nur nicht abgeben! Nur nicht traurig werden! Nur immer
tapfer darauf zu! Wir haben ja ein ganz vernünftiges Mamsellchen,
hat noch gar nie geweint, seit es bei uns ist; sonst weinen sie ja
zwölfmal im Tag in dem Alter, das kennt man. Die Kätzchen sind
auch lustig droben, die springen auf dem ganzen Estrich herum und
tun wie närrisch. Nachher gehen wir mal zusammen hinauf und
schauen ihnen zu, wenn die Dame drinnen weg ist, ja?"
Heidi nickte ein wenig mit dem Kopf, aber so freudlos, dass es dem
Sebastian recht zu Herzen ging und er ganz teilnehmend dem Heidi
nachschaute, wie es nach seinem Zimmer hin schlich.
Am Abendessen heute sagte Fräulein Rottenmeier kein Wort, aber
fortwährend warf sie sonderbar wachsame Blicke zu Heidi hinüber, so
als erwartete sie, es könnte plötzlich etwas Unerhörtes unternehmen;
aber Heidi saß mäuschenstill am Tisch und rührte sich nicht, es aß
nicht und trank nicht; nur sein Brötchen hatte es schnell in die
Tasche gesteckt.
Am folgenden Morgen, als der Herr Kandidat die Treppe heraufkam,
winkte ihn Fräulein Rottenmeier geheimnisvoll ins Esszimmer herein,
und hier teilte sie ihm in großer Aufregung ihre Besorgnis mit, die
Luftveränderung, die neue Lebensart und die ungewohnten Eindrücke
hätten das Kind um den Verstand gebracht, und sie erzählte ihm von
Heidis Fluchtversuch und wiederholte ihm von seinen sonderbaren
Reden, was sie noch wusste. Aber der Herr Kandidat besänftigte und
beruhigte Fräulein Rottenmeier, indem er sie versicherte, dass er
die Wahrnehmung gemacht habe, die Adelheid sei zwar einerseits
allerdings eher exzentrisch, aber anderseits doch wieder bei
richtigem Verstand, so dass sich nach und nach bei einer allseitig
erwogenen Behandlung das nötige Gleichgewicht einstellen könne, was
er im Auge habe; er finde den Umstand wichtiger, dass er durchaus
nicht über das Abc hinauskomme mit ihr, indem sie die Buchstaben
nicht zu fassen imstande sei.
Fräulein Rottenmeier fühlte sich beruhigter und entließ den Herrn
Kandidaten zu seiner Arbeit. Am späteren Nachmittag stieg ihr die
Erinnerung an Heidis Aufzug bei seiner vorgehabten Abreise auf, und
sie beschloss, die Gewandung des Kindes durch verschiedene
Kleidungsstücke der Klara in den nötigen Stand zu setzen, bevor
Herr Sesemann erscheinen würde. Sie teilte ihre Gedanken darüber
an Klara mit, und da diese mit allem einverstanden war und dem
Heidi eine Menge Kleider und Tücher und Hüte schenken wollte,
verfügte sich die Dame in Heidis Zimmer, um seinen Kleiderschrank
zu besehen und zu untersuchen, was da von dem Vorhandenen bleiben
und was entfernt werden solle. Aber in wenig Minuten kam sie
wieder zurück mit Gebärden des Abscheus. "Was muss ich entdecken,
Adelheid!", rief sie aus. "Es ist nie dagewesen! In deinem
Kleiderschrank, einem Schrank für Kleider, Adelheid, im Fuß dieses
Schrankes, was finde ich? Einen Haufen kleiner Brote! Brot, sage
ich, Klara, im Kleiderschrank! Und einen solchen Haufen
aufspeichern!"—"Tinette", rief sie jetzt ins Esszimmer hinaus,
"schaffen Sie mir das alte Brot fort aus dem Schrank der Adelheid
und den zerdrückten Strohhut auf dem Tisch!"
"Nein! Nein!", schrie Heidi auf; "ich muss den Hut haben, und die
Brötchen sind für die Großmutter", und Heidi wollte der Tinette
nachstürzen, aber es wurde von Fräulein Rottenmeier festgehalten.
"Du bleibst hier und der Kram wird hingebracht, wo er hingehört",
sagte sie bestimmt und hielt das Kind zurück. Aber nun warf sich
Heidi an Klaras Sessel nieder und fing ganz verzweiflungsvoll zu
weinen an, immer lauter und schmerzlicher, und schluchzte ein Mal
ums andere in seinem Jammer auf: "Nun hat die Großmutter keine
Brötchen mehr. Sie waren für die Großmutter, nun sind sie alle
fort und die Großmutter bekommt keine!", und Heidi weinte auf, als
wollte ihm das Herz zerspringen. Fräulein Rottenmeier lief hinaus.
Klara wurde es angst und bange bei dem Jammer. "Heidi, Heidi,
weine nur nicht so", sagte sie bittend, "hör mich nur! Jammere nur
nicht so, sieh, ich verspreche dir, ich gebe dir gerade so viel
Brötchen für die Großmutter, oder noch mehr, wenn du einmal
heimgehst, und dann sind diese frisch und weich, und die deinen
wären ja ganz hart geworden und waren es schon. Komm, Heidi, weine
nur nicht mehr so!"
Heidi konnte noch lange nicht aus seinem Schluchzen herauskommen;
aber es verstand Klaras Trost und hielt sich daran, sonst hätte es
gar nicht mehr zu weinen aufhören können. Es musste auch noch
mehrere Male seiner Hoffnung gewiss werden und Klara, durch die
letzten Anfälle von Schluchzen unterbrochen, fragen: "Gibst du mir
so viele, viele, wie ich hatte, für die Großmutter?"
Und Klara versicherte immer wieder: "Gewiss, ganz gewiss, noch mehr,
sei nur wieder froh!"
Noch zum Abendtisch kam Heidi mit den rot verweinten Augen, und als
es sein Brötchen erblickte, musste es gleich noch einmal
aufschluchzen. Aber es bezwang sich jetzt mit Gewalt, denn es
verstand, dass es sich am Tisch ruhig verhalten musste. Sebastian
machte heute jedes Mal die merkwürdigsten Gebärden, wenn er in
Heidis Nähe kam; er deutete bald auf seinen, bald auf Heidis Kopf,
dann nickte er wieder und kniff die Augen zu, so als wollte er
sagen: "Nur getrost! Ich hab's schon gemerkt und besorgt."
Als Heidi später in sein Zimmer kam und in sein Bett steigen wollte,
lag sein zerdrücktes Strohhütchen unter der Decke versteckt. Mit
Entzücken zog es den alten Hut hervor, zerdrückte ihn vor lauter
Freude noch ein wenig mehr und versteckte ihn dann, in ein
Taschentüchlein eingewickelt, in die allerhinterste Ecke seines
Schrankes. Das Hütchen hatte der Sebastian unter die Decke
gesteckt; er war zu gleicher Zeit mit Tinette im Esszimmer gewesen,
als diese gerufen wurde, und hatte Heidis Jammerruf vernommen.
Dann war er Tinette nachgegangen, und als sie aus Heidis Zimmer
heraustrat mit ihrer Brotlast und dem Hütchen oben darauf, hatte er
schnell dieses weggenommen und ihr zugerufen: "Das will ich schon
forttun." Darauf hatte er es in aller Freude für Heidi gerettet,
was er ihm beim Abendessen zur Erheiterung andeuten wollte.
Der Hausherr hört allerlei in seinem Hause, das er noch nicht
gehört hat
Einige Tage nach diesen Ereignissen war im Hause Sesemann große
Lebendigkeit und ein eifriges Treppauf- und Treppabrennen, denn
eben war der Hausherr von seiner Reise zurückgekehrt, und aus dem
bepackten Wagen wurde von Sebastian und Tinette eine Last nach der
anderen hinaufgetragen, denn Herr Sesemann brachte immer eine Menge
schöner Sachen mit nach Hause.
Er selbst war vor allem in das Zimmer seiner Tochter eingetreten,
um sie zu begrüßen. Heidi saß bei ihr, denn es war die Zeit des
späten Nachmittags, da die beiden immer zusammen waren. Klara
begrüßte ihren Vater mit großer Zärtlichkeit, denn sie liebte ihn
sehr, und der gute Papa grüßte sein Klärchen nicht weniger
liebevoll. Dann streckte er seine Hand dem Heidi entgegen, das
sich leise in eine Ecke zurückgezogen hatte, und sagte freundlich:
"Und das ist unsre kleine Schweizerin; komm her, gib mir mal eine
Hand! So ist's recht! Nun sag mir mal, seid ihr auch gute Freunde
zusammen, Klara und du? Nicht zanken und böse werden, und dann
weinen und dann versöhnen, und dann wieder von vorn anfangen, nun?"
"Nein, Klara ist immer gut mit mir", entgegnete Heidi.
"Und Heidi hat auch noch gar nie versucht zu zanken, Papa", warf
Klara schnell ein.
"So ist's gut, das hör ich gern", sagte der Papa, indem er aufstand.
"Nun musst du aber erlauben, Klärchen, dass ich etwas genieße;
heute habe ich noch nichts bekommen. Nachher komm ich wieder zu
dir und du sollst sehen, was ich mitgebracht habe!"
Herr Sesemann trat ins Esszimmer ein, wo Fräulein Rottenmeier den
Tisch überschaute, der für sein Mittagsmahl gerüstet war. Nachdem
Herr Sesemann sich niedergelassen und die Dame ihm gegenüber Platz
genommen hatte und aussah wie ein lebendiges Missgeschick, wandte
sich der Hausherr zu ihr: "Aber Fräulein Rottenmeier, was muss ich
denken? Sie haben zu meinem Empfang ein wahrhaft erschreckendes
Gesicht aufgesetzt. Wo fehlt es denn? Klärchen ist ganz munter."
"Herr Sesemann", begann die Dame mit gewichtigem Ernst, "Klara ist
mit betroffen, wir sind fürchterlich getäuscht worden."
"Wieso?", fragte Herr Sesemann und trank in aller Ruhe einen
Schluck Wein.
"Wir hatten ja beschlossen, wie Sie wissen, Herr Sesemann, eine
Gespielin für Klara ins Haus zu nehmen, und da ich ja weiß, wie
sehr Sie darauf halten, dass nur Gutes und Edles Ihre Tochter
umgebe, hatte ich meinen Sinn auf ein junges Schweizermädchen
gerichtet, indem ich hoffte, eines jener Wesen bei uns eintreten zu
sehen, von denen ich schon so oft gelesen, welche, der reinen
Bergluft entsprossen, sozusagen, ohne die Erde zu berühren, durch
das Leben gehen."
"Ich glaube zwar", bemerkte hier Herr Sesemann, "dass auch die
Schweizerkinder den Erdboden berühren, wenn sie vorwärts kommen
wollen; sonst wären ihnen wohl Flügel gewachsen statt der Füße."
"Ach, Herr Sesemann, Sie verstehen mich wohl", fuhr das Fräulein
fort; "Ich meinte eine jener so bekannten, in den hohen, reinen
Bergregionen lebenden Gestalten, die nur wie ein idealer Hauch an
uns vorüberziehen."
"Was sollte aber meine Klara mit einem idealen Hauch anfangen,
Fräulein Rottenmeier?"
"Nein, Herr Sesemann, ich scherze nicht, die Sache ist mir ernster,
als Sie denken; ich bin schrecklich, wirklich ganz schrecklich
getäuscht worden."
"Aber worin liegt denn das Schreckliche? So gar erschrecklich
sieht mir das Kind nicht aus", bemerkte ruhig Herr Sesemann.
"Sie sollten nur (eines) wissen, Herr Sesemann, nur das (eine), mit
was für Menschen und Tieren dieses Wesen Ihr Haus in Ihrer
Abwesenheit bevölkert hat; davon könnte der Herr Kandidat erzählen."
"Mit Tieren? Wie muss ich das verstehen, Fräulein Rottenmeier?"
"Es ist eben nicht zu verstehen; die ganze Aufführung dieses Wesens
wäre nicht zu verstehen, wenn nicht aus dem (einen) Punkte, dass es
Anfälle von völliger Verstandesgestörtheit hat."
Bis hierher hatte Herr Sesemann die Sache nicht für wichtig
gehalten; aber Gestörtheit des Verstandes? Eine solche konnte ja
für seine Tochter die bedenklichsten Folgen haben. Herr Sesemann
schaute Fräulein Rottenmeier sehr genau an, so, als wollte er sich
erst versichern, ob nicht etwa bei ihr eine derartige Störung zu
bemerken sei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgetan und der
Herr Kandidat angemeldet.
"Ah, da kommt unser Herr Kandidat, der wird uns Aufschluss geben!",
rief ihm Herr Sesemann entgegen.
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