"Kommen Sie, kommen Sie, setzen
Sie sich zu mir!" Herr Sesemann streckte dem Eintretenden die Hand
entgegen. "Der Herr Kandidat trinkt eine Tasse schwarzen Kaffee
mit mir, Fräulein Rottenmeier! Setzen Sie sich, setzen Sie sich—
keine Komplimente! Und nun sagen Sie mir, Herr Kandidat, was ist
mit dem Kinde, das als Gespielin meiner Tochter ins Haus gekommen
ist und das Sie unterrichten. Was hat es für eine Bewandtnis mit
den Tieren, die es ins Haus gebracht, und wie steht es mit seinem
Verstand?"
Der Herr Kandidat musste erst seine Freude über Herrn Sesemanns
glückliche Rückkehr aussprechen und ihn willkommen heißen, weswegen
er ja gekommen war; aber Herr Sesemann drängte ihn, dass er ihm
Aufschluss gebe über die fraglichen Punkte. So begann denn der
Herr Kandidat: "Wenn ich mich über das Wesen dieses jungen Mädchens
aussprechen soll, Herr Sesemann, so möchte ich vor allem darauf
aufmerksam machen, dass, wenn auch auf der einen Seite sich ein
Mangel der Entwicklung, welcher durch eine mehr oder weniger
vernachlässigte Erziehung, oder besser gesagt, etwas verspäteten
Unterricht verursacht und durch die mehr oder weniger, jedoch
durchaus nicht in jeder Beziehung zu verurteilende, im Gegenteil
ihre guten Seiten unstreitig dartuende Abgeschiedenheit eines
längeren Alpenaufenthalts, welcher, wenn er nicht eine gewisse
Dauer überschreitet, ja ohne Zweifel seine gute Seite—"
"Mein lieber Herr Kandidat", unterbrach hier Herr Sesemann, "Sie
geben sich wirklich zu viel Mühe; sagen Sie mir, hat auch Ihnen das
Kind einen Schrecken beigebracht durch eingeschleppte Tiere, und
was halten Sie überhaupt von diesem Umgang für mein Töchterchen?"
"Ich möchte dem jungen Mädchen in keiner Art zu nahe treten",
begann der Herr Kandidat wieder, "denn wenn es auch auf der einen
Seite in einer Art von gesellschaftlicher Unerfahrenheit, welche
mit dem mehr oder weniger unkultivierten Leben, in welchem das
junge Mädchen bis zu dem Augenblick seiner Versetzung nach
Frankfurt sich bewegte, welche Versetzung allerdings in die
Entwicklung dieses, ich möchte sagen noch völlig, wenigstens
teilweise unentwickelten, aber anderseits mit nicht zu verachtenden
Anlagen begabten und wenn allseitig umsichtig geleitet—"
"Entschuldigen Sie, Herr Kandidat, bitte, lassen Sie sich nicht
stören, ich werde—ich muss schnell einmal nach meiner Tochter
sehen." Damit lief Herr Sesemann zur Tür hinaus und kam nicht
wieder. Drüben im Studierzimmer setzte er sich zu seinem
Töchterchen hin; Heidi war aufgestanden. Herr Sesemann wandte sich
nach dem Kinde um: "Hör mal, Kleine, hol mir doch schnell—wart
einmal—hol mir mal"—(Herr Sesemann wusste nicht recht, was er
bedurfte, Heidi sollte aber ein wenig ausgeschickt werden)—"hol
mir doch mal ein Glas Wasser."
"Frisches?", fragte Heidi.
"Jawohl! Jawohl! Recht frisches!", gab Herr Sesemann zurück.
Heidi verschwand.
"Nun, mein liebes Klärchen", sagte der Papa, indem er ganz nah an
sein Töchterchen heranrückte und dessen Hand in die seinige legte,
"sag du mir klar und fasslich: Was für Tiere hat diese deine
Gespielin ins Haus gebracht und warum muss Fräulein Rottenmeier
denken, sie sei zeitweise nicht ganz recht im Kopf; kannst du mir
das sagen?"
Das konnte Klara, denn die erschrockene Dame hatte auch ihr von
Heidis sich verwirrenden Reden gesprochen, die aber für Klara alle
einen Sinn hatten. Sie erzählte erst dem Vater die Geschichten von
der Schildkröte und den jungen Katzen und erklärte ihm dann Heidis
Reden, welche die Dame so erschreckt hatten. Jetzt lachte Herr
Sesemann herzlich. "So willst du nicht, dass ich das Kind nach
Haus schicke, Klärchen, du bist seiner nicht müde?", fragte der
Vater.
"Nein, nein, Papa, tu nur das nicht!", rief Klara abwehrend aus.
"Seit Heidi da ist, begegnet immer etwas, jeden Tag, und es ist so
kurzweilig, ganz anders als vorher, da begegnete nie etwas, und
Heidi erzählt mir auch so viel."
"Schon gut, schon gut, Klärchen, da kommt ja auch deine Freundin
schon wieder. Na, schönes, frisches Wasser geholt?", fragte Herr
Sesemann, da ihm Heidi nun ein Glas Wasser hinstreckte.
"Ja, frisch vom Brunnen", antwortete Heidi.
"Du bist doch nicht selbst zum Brunnen gelaufen, Heidi?", sagte
Klara.
"Doch gewiss, es ist ganz frisch, aber ich musste weit gehen, denn
am ersten Brunnen waren so viele Leute. Da ging ich die Straße
ganz hinab, aber beim zweiten waren wieder so viele Leute; da ging
ich in die andere Straße hinein und dort nahm ich Wasser, und der
Herr mit den weißen Haaren lässt Herrn Sesemann freundlich grüßen."
"Na, die Expedition ist gut", lachte Herr Sesemann, "und wer ist
denn der Herr?"
"Er kam beim Brunnen vorbei und dann stand er still und sagte:
'Weil du doch ein Glas hast, so gib mir auch einmal zu
trinken; wem bringst du dein Glas Wasser?' Und ich sagte:
'Herrn Sesemann.' Da lachte er sehr stark, und dann
sagte er den Gruß und auch noch, Herr Sesemann solle sich's
schmecken lassen."
"So, und wer lässt mir denn wohl den guten Wunsch sagen? Wie sah
der Herr denn weiter aus?", fragte Herr Sesemann.
"Er lacht freundlich und hat eine dicke goldene Kette und ein
goldenes Ding hängt daran mit einem großen roten Stein und auf
seinem Stock ist ein Rosskopf."
"Das ist der Herr Doktor"—"Das ist mein alter Doktor", sagten
Klara und ihr Vater wie aus einem Munde, und Herr Sesemann lachte
noch ein wenig in sich hinein im Gedanken an seinen Freund und
dessen Betrachtungen über diese neue Weise, seinen Wasserbedarf
sich zuführen zu lassen.
Noch an demselben Abend erklärte Herr Sesemann, als er allein mit
Fräulein Rottenmeier im Esszimmer saß, um allerlei häusliche
Angelegenheiten mit ihr zu besprechen, die Gespielin seiner Tochter
werde im Hause bleiben; er finde, das Kind sei in einem normalen
Zustand, und seine Gesellschaft sei seiner Tochter sehr lieb und
angenehmer als jede andere. "Ich wünsche daher", setzte Herr
Sesemann sehr bestimmt hinzu, "dass dieses Kind jederzeit durchaus
freundlich behandelt und seine Eigentümlichkeiten nicht als
Vergehen betrachtet werden. Sollten Sie übrigens mit dem Kinde
nicht allein fertig werden, Fräulein Rottenmeier, so ist ja eine
gute Hilfe für Sie in Aussicht, da in nächster Zeit meine Mutter zu
ihrem längeren Aufenthalt in mein Haus kommt, und meine Mutter wird
mit jedem Menschen fertig, wie er sich auch anstelle, das wissen
Sie ja wohl, Fräulein Rottenmeier?"
"Jawohl, das weiß ich, Herr Sesemann", entgegnete die Dame, aber
nicht mit dem Ausdruck der Erleichterung im Hinblick auf die
angezeigte Hilfe.—
Herr Sesemann hatte diesmal nur eine kurze Zeit Ruhe zu Hause,
schon nach vierzehn Tagen riefen ihn seine Geschäfte wieder nach
Paris, und er tröstete sein Töchterchen, das mit der nahen Abreise
nicht einverstanden war, mit der Aussicht auf die baldige Ankunft
der Großmama, die schon nach einigen Tagen erwartet werden konnte.
Kaum war auch Herr Sesemann abgereist, als schon der Brief anlangte,
der die Abreise der Frau Sesemann aus Holstein, wo sie auf einem
alten Gute wohnte, anzeigte und die bestimmte Zeit ihrer Ankunft
auf den folgenden Tag meldete, damit der Wagen nach dem Bahnhof
geschickt würde, um sie abzuholen.
Klara war voller Freude über die Nachricht und erzählte noch an
demselben Abend dem Heidi so viel und so lange von der Großmama,
dass Heidi auch anfing, von der 'Großmama' zu reden,
worauf Fräulein Rottenmeier Heidi mit Missbilligung anblickte, was
aber das Kind auf nichts Besonderes bezog, denn es fühlte sich
unter fortdauernder Missbilligung der Dame. Als es sich dann
später entfernte, um in sein Schlafzimmer zu gehen, berief Fräulein
Rottenmeier es erst in das ihrige herein und erklärte ihm hier, es
habe niemals den Namen 'Großmama' anzuwenden, sondern
wenn Frau Sesemann nun da sei, habe es sie stets 'gnädige
Frau' anzureden. "Verstehst du das?", fragte die Dame, als
Heidi sie etwas zweifelhaft ansah; sie gab ihm aber einen so
abschließenden Blick zurück, dass Heidi sich keine Erklärung mehr
erbat, obschon es den Titel nicht verstanden hatte.
Eine Großmama
Am folgenden Abend waren große Erwartungen und lebhafte
Vorbereitungen im Hause Sesemann sichtbar, man konnte deutlich
bemerken, dass die erwartete Dame ein bedeutendes Wort im Hause
mitzusprechen hatte und dass jedermann großen Respekt vor ihr
empfand. Tinette hatte ein ganz neues, weißes Deckelchen auf den
Kopf gesetzt, und Sebastian raffte eine Menge von Schemeln zusammen
und stellte sie an alle passenden Stellen hin, damit die Dame
gleich einen Schemel unter den Füßen finde, wohin sie sich auch
setzen möge. Fräulein Rottenmeier ging zur Musterung der Dinge
sehr aufrecht durch die Zimmer, so wie um anzudeuten, dass, wenn
auch eine zweite Herrschermacht herannahe, die ihrige dennoch nicht
am Erlöschen sei.
Jetzt rollte der Wagen vor das Haus, und Sebastian und Tinette
stürzten die Treppe hinunter; langsam und würdevoll folgte Fräulein
Rottenmeier nach, denn sie wusste, dass auch sie zum Empfang der
Frau Sesemann zu erscheinen hatte. Heidi war beordert worden, sich
in sein Zimmer zurückzuziehen und da zu warten, bis es gerufen
würde, denn die Großmutter würde zuerst bei Klara eintreten und
diese wohl allein sehen wollen. Heidi setzte sich in einen Winkel
und repetierte seine Anrede. Es währte gar nicht lange, so steckte
die Tinette den Kopf ein klein wenig unter Heidis Zimmertür und
sagte kurz angebunden wie immer: "Hinübergehen ins Studierzimmer!"
Heidi hatte Fräulein Rottenmeier nicht fragen dürfen, wie es mit
der Anrede sei, aber es dachte, die Dame habe sich nur versprochen,
denn es hatte bis jetzt immer erst den Titel nennen gehört und
nachher den Namen; so hatte es sich nun die Sache zurechtgelegt.
Wie es die Tür zum Studierzimmer aufmachte, rief ihm die Großmutter
mit freundlicher Stimme entgegen: "Ah, da kommt ja das Kind! Komm
mal her zu mir und lass dich recht ansehen."
Heidi trat heran, und mit seiner klaren Stimme sagte es sehr
deutlich: "Guten Tag, Frau Gnädige."
"Warum nicht gar!", lachte die Großmama. "Sagt man so bei euch?
Hast du das daheim auf der Alp gehört?"
"Nein, bei uns heißt niemand so", erklärte Heidi ernsthaft.
"So, bei uns auch nicht", lachte die Großmama wieder und klopfte
Heidi freundlich auf die Wange. "Das ist nichts! In der
Kinderstube bin ich die Großmama; so sollst du mich nennen, das
kannst du wohl behalten, wie?"
"Ja, das kann ich gut", versicherte Heidi, "vorher hab ich schon
immer so gesagt."
"So, so, verstehe schon!", sagte die Großmama und nickte ganz
lustig mit dem Kopfe. Dann schaute sie Heidi genau an und nickte
von Zeit zu Zeit wieder mit dem Kopf, und Heidi guckte ihr auch
ganz ernsthaft in die Augen, denn da kam etwas so Herzliches heraus,
dass es dem Heidi ganz wohl machte, und die ganze Großmama gefiel
dem Heidi so, dass es sie unverwandt anschauen musste. Sie hatte
so schöne weiße Haare, und um den Kopf ging eine schöne
Spitzenkrause, und zwei breite Bänder flatterten von der Haube weg
und bewegten sich immer irgendwie, so als ob stets ein leichter
Wind um die Großmama wehe, was das Heidi ganz besonders anmutete.
"Und wie heißt du, Kind?", fragte jetzt die Großmama.
"Ich heiße nur Heidi; aber weil ich soll Adelheid heißen, so will
ich schon Acht geben—"; Heidi stockte, denn es fühlte sich ein
wenig schuldig, da es noch immer keine Antwort gab, wenn Fräulein
Rottenmeier unversehens rief: "Adelheid!", indem es ihm noch immer
nicht recht gegenwärtig war, dass dies sein Name sei, und Fräulein
Rottenmeier war eben ins Zimmer getreten.
"Frau Sesemann wird unstreitig billigen", fiel hier die eben
Eingetretene ein, "dass ich einen Namen wählen musste, den man doch
aussprechen kann, ohne sich selbst genieren zu müssen, schon um der
Dienstboten willen."
"Werteste Rottenmeier", entgegnete Frau Sesemann, "wenn ein Mensch
einmal 'Heidi' heißt und an den Namen gewöhnt ist, so
nenn ich ihn so, und dabei bleibt's!"
Es war Fräulein Rottenmeier sehr genierlich, dass die alte Dame sie
beständig nur bei ihrem Namen nannte, ohne weitere Titulatur; aber
da war nichts zu machen; die Großmama hatte einmal ihre eigenen
Wege, und diese ging sie, da half kein Mittel dagegen. Auch ihre
fünf Sinne hatte die Großmama noch ganz scharf und gesund, und sie
bemerkte, was im Hause vorging, sobald sie es betreten hatte.
Als am Tage nach ihrer Ankunft Klara sich zur gewohnten Zeit nach
Tisch niederlegte, setzte die Großmama sich neben sie auf einen
Lehnstuhl und schloss ihre Augen für einige Minuten; dann stand sie
schon wieder auf—denn sie war gleich wieder munter—und trat ins
Esszimmer hinaus; da war niemand. "Die schläft", sagte sie vor
sich hin, ging dann nach dem Zimmer der Dame Rottenmeier und
klopfte kräftig an die Tür. Nach einiger Zeit erschien diese und
fuhr erschrocken ein wenig zurück bei dem unerwarteten Besuch.
"Wo hält sich das Kind auf um diese Zeit, und was tut es? Das
wollte ich wissen", sagte Frau Sesemann.
"In seinem Zimmer sitzt es, wo es sich nützlich beschäftigen könnte,
wenn es den leisesten Tätigkeitstrieb hätte; aber Frau Sesemann
sollte nur wissen, was für verkehrtes Zeug sich dieses Wesen oft
ausdenkt und wirklich ausführt, Dinge, die ich in gebildeter
Gesellschaft kaum erzählen könnte."
"Das würde ich gerade auch tun, wenn ich so da drinnen säße wie
dieses Kind, das kann ich Ihnen sagen, und Sie könnten zusehen, wie
Sie mein Zeug in gebildeter Gesellschaft erzählen wollten! Jetzt
holen Sie mir das Kind heraus und bringen Sie mir's in meine Stube,
ich will ihm einige hübsche Bücher geben, die ich mitgebracht habe."
"Das ist ja gerade das Unglück, das ist es ja eben!", rief Fräulein
Rottenmeier aus und schlug die Hände zusammen. "Was sollte das
Kind mit Büchern tun? In all dieser Zeit hat es noch nicht einmal
das Abc erlernt; es ist völlig unmöglich, diesem Wesen auch nur
(einen) Begriff beizubringen, davon kann der Herr Kandidat reden!
Wenn dieser treffliche Mensch nicht die Geduld eines himmlischen
Engels besäße, er hätte diesen Unterricht längst aufgegeben."
"So, das ist merkwürdig, das Kind sieht nicht aus wie eines, das
das Abc nicht erlernen kann", sagte Frau Sesemann. "Jetzt holen
Sie mir's herüber, es kann vorläufig die Bilder in den Büchern
ansehen."
Fräulein Rottenmeier wollte noch einiges bemerken, aber Frau
Sesemann hatte sich schon umgewandt und ging rasch ihrem Zimmer zu.
Sie musste sich sehr verwundern über die Nachricht von Heidis
Beschränktheit und gedachte, die Sache zu untersuchen, jedoch nicht
mit dem Herrn Kandidaten, den sie zwar um seines guten Charakters
willen sehr schätzte; sie grüßte ihn auch immer, wenn sie mit ihm
zusammentraf, überaus freundlich, lief dann aber sehr schnell auf
eine andere Seite, um nicht in ein Gespräch mit ihm verwickelt zu
werden, denn seine Ausdrucksweise war ihr ein wenig beschwerlich.
Heidi erschien im Zimmer der Großmama und machte die Augen weit auf,
als es die prächtigen bunten Bilder in den großen Büchern sah,
welche die Großmama mitgebracht hatte. Auf einmal schrie Heidi
laut auf, als die Großmama wieder ein Blatt umgewandt hatte; mit
glühendem Blick schaute es auf die Figuren, dann stürzten ihm
plötzlich die hellen Tränen aus den Augen, und es fing gewaltig zu
schluchzen an.
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