Die Großmama hatte hübsche
kleine Puppen und zeigte dem Heidi, wie man ihnen Kleider und
Schürzchen macht, und ganz unvermerkt hatte Heidi das Nähen erlernt
und machte den kleinen Frauenzimmern die schönsten Röcke und
Mäntelchen, denn die Großmama hatte immer Zeugstücke von den
prächtigsten Farben. Nun Heidi lesen konnte, durfte es auch immer
wieder der Großmama seine Geschichten vorlesen; das machte ihm die
größte Freude, denn je mehr es seine Geschichten las, desto lieber
wurden sie ihm, denn Heidi lebte alles ganz mit durch, was die
Leute alle zu erleben hatten, und so hatte es zu ihnen allen ein
sehr nahes Verhältnis und freute sich immer wieder, bei ihnen zu
sein. Aber so recht froh sah Heidi nie aus, und seine lustigen
Augen waren nie mehr zu sehen.
Es war die letzte Woche, welche die Großmama in Frankfurt zubringen
wollte. Sie hatte eben nach Heidi gerufen, dass es auf ihre Stube
komme; es war die Zeit, da Klara schlief. Als Heidi eintrat mit
seinem großen Buch unter dem Arm, winkte ihm die Großmama, dass es
ganz nahe zu ihr herankomme, legte das Buch weg und sagte: "Nun
komm, Kind, und sag mir, warum bist du nicht fröhlich? Hast du
immer noch denselben Kummer im Herzen?"
"Ja", nickte Heidi.
"Hast du ihn dem lieben Gott geklagt?"
"Ja."
"Und betest du nun alle Tage, dass alles gut werde und er dich froh
mache?"
"O nein, ich bete jetzt gar nie mehr."
"Was sagst du mir, Heidi? Was muss ich hören? Warum betest du
denn nicht mehr?"
"Es nützt nichts, der liebe Gott hat nicht zugehört, und ich glaube
es auch wohl", fuhr Heidi in einiger Aufregung weiter, "wenn nun am
Abend so viele, viele Leute in Frankfurt alle miteinander beten, so
kann der liebe Gott ja nicht auf alle Acht geben, und mich hat er
gewiss gar nicht gehört."
"So, wie weißt du denn das so sicher, Heidi?"
"Ich habe alle Tage das Gleiche gebetet, manche Woche lang, und der
liebe Gott hat es nie getan."
"Ja, so geht's nicht zu, Heidi! Das musst du nicht meinen! Siehst
du, der liebe Gott ist für uns alle ein guter Vater, der immer weiß,
was gut für uns ist, wenn wir es gar nicht wissen. Wenn wir aber
nun etwas von ihm haben wollen, das nicht gut für uns ist, so gibt
er uns das nicht, sondern etwas viel Besseres, wenn wir fortfahren,
so recht herzlich zu ihm zu beten, aber nicht gleich weglaufen und
alles Vertrauen zu ihm verlieren. Siehst du, was du nun von ihm
erbitten wolltest, das war in diesem Augenblick nicht gut für dich;
der liebe Gott hat dich schon gehört, er kann alle Menschen auf
einmal anhören und übersehen, siehst du, dafür ist er der liebe
Gott und nicht ein Mensch wie du und ich. Und weil er nun wohl
wusste, was für dich gut ist, dachte er bei sich: 'Ja, das
Heidi soll schon einmal haben, wofür es bittet, aber erst dann,
wenn es ihm gut ist, und so wie es darüber recht froh werden kann.
Denn wenn ich jetzt tue, was es will, und es merkt nachher, dass es
doch besser gewesen wäre, ich hätte ihm seinen Willen nicht getan,
dann weint es nachher und sagt: Hätte mir doch der liebe Gott nur
nicht gegeben, wofür ich bat, es ist gar nicht so gut, wie ich
gemeint habe.' Und während nun der liebe Gott auf dich
niedersah, ob du ihm auch recht vertrautest und täglich zu ihm
kommest und betest und immer zu ihm aufsehest, wenn dir etwas fehlt,
da bist du weggelaufen ohne alles Vertrauen, hast nie mehr gebetet
und hast den lieben Gott ganz vergessen. Aber siehst du, wenn
einer es so macht und der liebe Gott hört seine Stimme gar nie mehr
unter den Betenden, so vergisst er ihn auch und lässt ihn gehen,
wohin er will. Wenn es ihm dabei aber schlecht geht und er jammert:
'Mir hilft aber auch gar niemand!', dann hat keiner
Mitleiden mit ihm, sondern jeder sagt zu ihm: 'Du bist ja
selbst vom lieben Gott weggelaufen, der dir helfen konnte!'
Willst du's so haben, Heidi, oder willst du gleich wieder zum
lieben Gott gehen und ihn um Verzeihung bitten, dass du so von ihm
weggelaufen bist, und dann alle Tage zu ihm beten und ihm vertrauen,
dass er alles gut für dich machen werde, so dass du auch wieder
ein frohes Herz bekommen kannst?"
Heidi hatte sehr aufmerksam zugehört; jedes Wort der Großmama fiel
in sein Herz, denn zu ihr hatte das Kind ein unbedingtes Vertrauen.
"Ich will jetzt gleich auf der Stelle gehen und den lieben Gott um
Verzeihung bitten, und ich will ihn nie mehr vergessen", sagte
Heidi reumütig.
"So ist's recht, Kind, er wird dir auch helfen zur rechten Zeit,
sei nur getrost!", ermunterte die Großmama, und Heidi lief sofort
in sein Zimmer hinüber und betete ernstlich und reuig zum lieben
Gott und bat ihn, dass er es doch nicht vergessen und auch wieder
zu ihm niederschauen möge.—
Der Tag der Abreise war gekommen, es war für Klara und Heidi ein
trauriger Tag; aber die Großmama wusste es so einzurichten, dass
sie gar nicht zum Bewusstsein kamen, dass es eigentlich ein
trauriger Tag sei, sondern es war eher wie ein Festtag, bis die
gute Großmama im Wagen davonfuhr. Da trat eine Leere und Stille im
Hause ein, als wäre alles vorüber, und solange noch der Tag währte,
saßen Klara und Heidi wie verloren da und wussten gar nicht, wie es
nun weiter kommen sollte.
Am folgenden Tag, als die Unterrichtsstunden vorbei und die Zeit da
war, da die Kinder gewöhnlich zusammensaßen, trat Heidi mit seinem
Buch unter dem Arm herein und sagte: "Ich will dir nun immer, immer
vorlesen; willst du, Klara?"
Der Klara war der Vorschlag recht für einmal, und Heidi machte sich
mit Eifer an seine Tätigkeit. Aber es ging nicht lange, so hörte
schon wieder alles auf, denn kaum hatte Heidi eine Geschichte zu
lesen begonnen, die von einer sterbenden Großmutter handelte, als
es auf einmal laut aufschrie: "Oh, nun ist die Großmutter tot!",
und in ein jammervolles Weinen ausbrach, denn alles, was es las,
war dem Heidi volle Gegenwart, und es glaubte nicht anders, als nun
sei die Großmutter auf der Alm gestorben, und es klagte in immer
lauterem Weinen: "Nun ist die Großmutter tot, und ich kann nie mehr
zu ihr gehen, und sie hat nicht ein einziges Brötchen mehr bekommen!
"
Klara suchte immerfort dem Heidi zu erklären, dass es ja nicht die
Großmutter auf der Alm sei, sondern eine ganz andere, von der diese
Geschichte handle; aber auch, als sie endlich dazu gekommen war,
dem aufgeregten Heidi diese Verwechslung klar zu machen, konnte es
sich doch nicht beruhigen und weinte immer noch untröstlich weiter,
denn der Gedanke war ihm nun im Herzen erwacht, die Großmutter
könne ja sterben, während es so weit weg sei, und der Großvater
auch noch, und wenn es dann nach einiger Zeit wieder heimkomme, so
sei alles still und tot auf der Alm und es stehe ganz allein da und
könne niemals mehr die sehen, die ihm lieb waren.
Währenddessen war Fräulein Rottenmeier ins Zimmer getreten und
hatte noch Klaras Bemühungen, Heidi über seinen Irrtum aufzuklären,
mit angehört. Als das Kind aber immer noch nicht aufhören konnte
zu schluchzen, trat sie mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld zu den
Kindern heran und sagte mit bestimmtem Ton: "Adelheid, nun ist des
grundlosen Geschreis genug! Ich will dir eines sagen: Wenn du noch
ein einziges Mal beim Lesen deiner Geschichten solchen Ausbrüchen
den Lauf lässt, so nehme ich das Buch aus deinen Händen und für
immer!"
Das machte Eindruck. Heidi wurde ganz weiß vor Schrecken, das Buch
war sein höchster Schatz. Es trocknete in größter Eile seine
Tränen und schluckte und würgte sein Schluchzen mit Gewalt hinunter,
so dass kein Tönchen mehr laut wurde. Das Mittel hatte geholfen,
Heidi weinte nie mehr, was es auch lesen mochte; aber manchmal
hatte es solche Anstrengungen zu machen, um sich zu überwinden und
nicht aufzuschreien, dass Klara öfter ganz erstaunt sagte: "Heidi,
du machst so schreckliche Grimassen, wie ich noch nie gesehen habe.
" Aber die Grimassen machten keinen Lärm und fielen der Dame
Rottenmeier nicht auf, und wenn Heidi seinen Anfall von
verzweiflungsvoller Traurigkeit niedergerungen hatte, kam alles
wieder ins Geleise für einige Zeit und war tonlos vorübergegangen.
Aber seinen Appetit verlor Heidi so sehr und sah so mager und
bleich aus, dass der Sebastian fast nicht ertragen konnte, das so
mit anzusehen und Zeuge sein zu müssen, wie Heidi bei Tisch die
schönsten Gerichte an sich vorübergehen ließ und nichts essen
wollte. Er flüsterte ihm auch öfter ermunternd zu, wenn er ihm
eine Schüssel hinhielt: "Nehmen von dem, Mamsellchen, 's ist
vortrefflich. Nicht so! Einen rechten Löffel voll, noch einen!",
und dergleichen väterlicher Räte mehr; aber es half nichts: Heidi
aß fast gar nicht mehr, und wenn es sich am Abend auf sein Kissen
legte, so hatte es augenblicklich alles vor Augen, was daheim war,
und nur ganz leise weinte es dann vor Sehnsucht in sein Kissen
hinein, so dass es gar niemand hören konnte.
So ging eine lange Zeit dahin. Heidi wusste gar nie, ob es Sommer
oder Winter sei, denn die Mauern und Fenster, die es aus allen
Fenstern des Hauses Sesemann erblickte, sahen immer gleich aus, und
hinaus kam es nur, wenn es Klara besonders gut ging und eine
Ausfahrt im Wagen mit ihr gemacht werden konnte, die aber immer
sehr kurz war, denn Klara konnte nicht vertragen, lang zu fahren.
So kam man kaum aus den Mauern und Steinstraßen heraus, sondern
kehrte gewöhnlich vorher wieder um und fuhr immerfort durch große,
schöne Straßen, wo Häuser und Menschen in Fülle zu sehen waren,
aber nicht Gras und Blumen, keine Tannen und keine Berge, und
Heidis Verlangen nach dem Anblick der schönen gewohnten Dinge
steigerte sich mit jedem Tage mehr, so dass es jetzt nur den Namen
eines dieser Erinnerung weckenden Worte zu lesen brauchte, so war
schon ein Ausbruch des Schmerzes nahe, und Heidi hatte mit aller
Gewalt dagegen zu ringen. So waren Herbst und Winter vergangen,
und schon blendete die Sonne wieder so stark auf die weißen Mauern
am Hause gegenüber, dass Heidi ahnte, nun sei die Zeit nahe, da der
Peter wieder zur Alm führe mit den Geißen, da die goldenen
Cystusröschen glitzerten droben im Sonnenschein und allabendlich
ringsum alle Berge im Feuer ständen. Heidi setzte sich in seinem
einsamen Zimmer in einen Winkel und hielt sich mit beiden Händen
die Augen zu, dass es den Sonnenschein drüben an der Mauer nicht
sehe; und so saß es regungslos, sein brennendes Heimweh lautlos
niederkämpfend, bis Klara wieder nach ihm rief.
Im Hause Sesemann spukt's
Seit einigen Tagen wanderte Fräulein Rottenmeier meistens
schweigend und in sich gekehrt im Haus herum. Wenn sie um die Zeit
der Dämmerung von einem Zimmer ins andere oder über den langen
Korridor ging, schaute sie öfters um sich, gegen die Ecken hin und
auch schnell einmal hinter sich, so, als denke sie, es könnte
jemand leise hinter ihr herkommen und sie unversehens am Rock
zupfen. So allein ging sie aber nur noch in den bewohnten Räumen
herum. Hatte sie auf dem oberen Boden, wo die feierlich
aufgerüsteten Gastzimmer lagen, oder gar in den unteren Räumen
etwas zu besorgen, wo der große geheimnisvolle Saal war, in dem
jeder Tritt einen weithin schallenden Widerhall gab und die alten
Ratsherren mit den großen, weißen Kragen so ernsthaft und
unverwandt auf einen niederschauten, da rief sie nun regelmäßig die
Tinette herbei und sagte ihr, sie habe mitzukommen, im Fall etwas
von dort herauf- oder von oben herunterzutragen wäre. Tinette
ihrerseits machte es pünktlich ebenso; hatte sie oben oder unten
irgendein Geschäft abzutun, so rief sie den Sebastian herbei und
sagte ihm, er habe sie zu begleiten, es möchte etwas
herbeizubringen sein, das sie nicht allein tragen könnte.
Wunderbarerweise tat auch Sebastian akkurat dasselbe; wurde er in
die abgelegenen Räume geschickt, so holte er den Johann herauf und
wies ihn an, ihn zu begleiten, im Fall er nicht herbeischaffen
könnte, was erforderlich sei. Und jedes folgte immer ganz willig
dem Ruf, obschon eigentlich nie etwas herbeizutragen war, so dass
jedes gut hätte allein gehen können; aber es war so, als denke der
Herbeigerufene immer bei sich, er könne den anderen auch bald für
denselben Dienst nötig haben. Während sich solches oben zutrug,
stand unten die langjährige Köchin tiefsinnig bei ihren Töpfen und
schüttelte den Kopf und seufzte: "Dass ich das noch erleben musste!"
Es ging im Hause Sesemann seit einiger Zeit etwas ganz Seltsames
und Unheimliches vor. Jeden Morgen, wenn die Dienerschaft
herunterkam, stand die Haustür weit offen; aber weit und breit war
niemand zu sehen, der mit dieser Erscheinung im Zusammenhang stehen
konnte. In den ersten Tagen, da dies geschehen war, wurden gleich
mit Schrecken alle Zimmer und Räume des Hauses durchsucht, um zu
sehen, was alles gestohlen sei, denn man dachte, ein Dieb habe sich
im Hause verstecken können und sei in der Nacht mit dem Gestohlenen
entflohen; aber da war gar nichts fortgekommen, es fehlte im ganzen
Hause nicht ein einziges Ding. Abends wurde nicht nur die Tür
doppelt zugeriegelt, sondern es wurde noch der hölzerne Balken
vorgeschoben—es half nichts: Am Morgen stand die Tür weit offen;
und so früh nun auch die ganze Dienerschaft in ihrer Aufregung am
Morgen herunterkommen mochte—die Tür stand offen, wenn auch
ringsum alles noch im tiefen Schlaf lag und Fenster und Türen an
allen anderen Häusern noch fest verrammelt waren.
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