Die Großmama schaute das Bild an. Es war eine
schöne, grüne Weide, wo allerlei Tierlein herumweideten und an den
grünen Gebüschen nagten. In der Mitte stand der Hirt, auf einen
langen Stab gestützt, der schaute den fröhlichen Tierchen zu.
Alles war wie in Goldschimmer gemalt, denn hinten am Horizont war
eben die Sonne im Untergehen.
Die Großmama nahm Heidi bei der Hand. "Komm, komm, Kind", sagte
sie in freundlichster Weise, "nicht weinen, nicht weinen. Das hat
dich wohl an etwas erinnert; aber sieh, da ist auch eine schöne
Geschichte dazu, die erzähl ich heut Abend. Und da sind noch so
viele schöne Geschichten in dem Buch, die kann man alle lesen und
wieder erzählen. Komm, nun müssen wir etwas besprechen zusammen,
trockne schön deine Tränen, so, und nun stell dich hier vor mich
hin, dass ich dich recht ansehen kann; so ist's recht, nun sind wir
wieder fröhlich."
Aber noch verging einige Zeit, bevor Heidi zu schluchzen aufhören
konnte. Die Großmama ließ ihm auch eine gute Weile zur Erholung,
nur sagte sie von Zeit zu Zeit ermunternd: "So, nun ist's gut, nun
sind wir wieder froh zusammen."
Als sie endlich das Kind beruhigt sah, sagte sie: "Nun musst du mir
was erzählen, Kind! Wie geht es denn beim Herrn Kandidaten in den
Unterrichtsstunden, lernst du auch gut und kannst du was?"
"O nein", antwortete Heidi seufzend; "aber ich wusste schon, dass
man es nicht lernen kann."
"Was kann man denn nicht lernen, Heidi, was meinst du?"
"Lesen kann man nicht lernen, es ist zu schwer."
"Das wäre! Und woher weißt du denn diese Neuigkeit?"
"Der Peter hat es mir gesagt und er weiß es schon, der muss immer
wieder probieren, aber er kann es nie lernen, es ist zu schwer."
"So, das ist mir ein eigener Peter, der! Aber sieh, Heidi, man
muss nicht alles nur so hinnehmen, was einem ein Peter sagt, man
muss selbst probieren. Gewiss hast du nicht recht mit all deinen
Gedanken dem Herrn Kandidaten zugehört und seine Buchstaben
angesehen."
"Es nützt nichts", versicherte Heidi mit dem Ton der vollen
Ergebung in das Unabänderliche.
"Heidi", sagte nun die Großmama, "jetzt will ich dir etwas sagen:
Du hast noch nie lesen gelernt, weil du deinem Peter geglaubt hast;
nun aber sollst du mir glauben, und ich sage dir fest und sicher,
dass du in kurzer Zeit lesen lernen kannst, wie eine große Menge
von Kindern, die geartet sind wie du und nicht wie der Peter. Und
nun musst du wissen, was nachher kommt, wenn du dann lesen kannst—
du hast den Hirten gesehen auf der schönen, grünen Weide—; sobald
du nun lesen kannst, bekommst du das Buch, da kannst du seine ganze
Geschichte vernehmen, ganz so, als ob sie dir jemand erzählte,
alles, was er macht mit seinen Schafen und Ziegen und was ihm für
merkwürdige Dinge begegnen. Das möchtest du schon wissen, Heidi,
nicht?"
Heidi hatte mit gespannter Aufmerksamkeit zugehört, und mit
leuchtenden Augen sagte es jetzt, tief Atem holend: "Oh, wenn ich
nur schon lesen könnte!"
"Jetzt wird's kommen, und gar nicht lange wird's währen, das kann
ich schon sehen, Heidi, und nun müssen wir mal nach der Klara sehen;
komm, die schönen Bücher nehmen wir mit." Damit nahm die Großmama
Heidi bei der Hand und ging mit ihm nach dem Studierzimmer.
Seit dem Tage, da Heidi hatte heimgehen wollen und Fräulein
Rottenmeier es auf der Treppe ausgescholten und ihm gesagt hatte,
wie schlecht und undankbar es sich erweise durch sein
Fortlaufenwollen und wie gut es sei, dass Herr Sesemann nichts
davon wisse, war mit dem Kinde eine Veränderung vorgegangen. Es
hatte begriffen, dass es nicht heimgehen könne, wenn es wolle, wie
ihm die Base gesagt hatte, sondern dass es in Frankfurt zu bleiben
habe, lange, lange, vielleicht für immer. Es hatte auch verstanden,
dass Herr Sesemann es sehr undankbar von ihm finden würde, wenn es
heimgehen wollte, und es dachte sich aus, dass die Großmama und
Klara auch so denken würden. So durfte es keinem Menschen sagen,
dass es heimgehen möchte, denn dass die Großmama, die so freundlich
mit ihm war, auch böse würde, wie Fräulein Rottenmeier geworden war,
das wollte Heidi nicht verursachen. Aber in seinem Herzen wurde
die Last, die darinnen lag, immer schwerer; es konnte nicht mehr
essen, und jeden Tag wurde es ein wenig bleicher. Am Abend konnte
es oft lange, lange nicht einschlafen, denn sobald es allein war
und alles still ringsumher, kam ihm alles so lebendig vor die Augen,
die Alm und der Sonnenschein darauf und die Blumen; und schlief es
endlich doch ein, so sah es im Traum die roten Felsenspitzen am
Falknis und das feurige Schneefeld an der Schesaplana, und erwachte
dann Heidi am Morgen und wollte voller Freude hinausspringen aus
der Hütte—da war es auf einmal in seinem großen Bett in Frankfurt,
so weit, weit weg, und konnte nicht mehr heim. Dann drückte Heidi
oft seinen Kopf in das Kissen und weinte lang, ganz leise, dass
niemand es höre.
Heidis freudloser Zustand entging der Großmama nicht. Sie ließ
einige Tage vorübergehen und sah zu, ob die Sache sich ändere und
das Kind sein niedergeschlagenes Wesen verlieren würde. Als es
aber gleich blieb und die Großmama manchmal am frühen Morgen schon
sehen konnte, dass Heidi geweint hatte, da nahm sie eines Tages das
Kind wieder in ihre Stube, stellte es vor sich hin und sagte mit
großer Freundlichkeit: "Jetzt sag mir, was dir fehlt, Heidi; hast
du einen Kummer?"
Aber gerade dieser freundlichen Großmama wollte Heidi nicht sich so
undankbar zeigen, dass sie vielleicht nachher gar nicht mehr so
freundlich wäre; so sagte Heidi traurig: "Man kann es nicht sagen."
"Nicht? Kann man es etwa der Klara sagen?", fragte die Großmama.
"O nein, keinem Menschen", versicherte Heidi und sah dabei so
unglücklich aus, dass es die Großmama erbarmte.
"Komm, Kind", sagte sie, "ich will dir was sagen: Wenn man einen
Kummer hat, den man keinem Menschen sagen kann, so klagt man ihn
dem lieben Gott im Himmel und bittet ihn, dass er helfe, denn er
kann allem Leid abhelfen, das uns drückt. Das verstehst du, nicht
wahr? Du betest doch jeden Abend zum lieben Gott im Himmel und
dankst ihm für alles Gute und bittest ihn, dass er dich vor allem
Bösen behüte?"
"O nein, das tu ich nie", antwortete das Kind.
"Hast du denn gar nie gebetet, Heidi, weißt du nicht, was das ist?"
"Nur mit der ersten Großmutter habe ich gebetet, aber es ist schon
lang, und jetzt habe ich es vergessen."
"Siehst du, Heidi, darum musst du so traurig sein, weil du jetzt
gar niemanden kennst, der dir helfen kann. Denk einmal nach, wie
wohl das tun muss, wenn einen im Herzen etwas immerfort drückt und
quält und man kann so jeden Augenblick zum lieben Gott hingehen und
ihm alles sagen und ihn bitten, dass er helfe, wo uns sonst gar
niemand helfen kann! Und er kann überall helfen und uns geben, was
uns wieder froh macht."
Durch Heidis Augen fuhr ein Freudenstrahl: "Darf man ihm alles,
alles sagen?"
"Alles, Heidi, alles."
Das Kind zog seine Hand aus den Händen der Großmama und sagte eilig:
"Kann ich gehen?"
"Gewiss! Gewiss!", gab diese zur Antwort, und Heidi lief davon und
hinüber in sein Zimmer, und hier setzte es sich auf seinen Schemel
nieder und faltete seine Hände und sagte dem lieben Gott alles, was
in seinem Herzen war und es so traurig machte, und bat ihn dringend
und herzlich, dass er ihm helfe und es wieder heimkommen lasse zum
Großvater.—
Es mochte etwas mehr als eine Woche verflossen sein seit diesem
Tage, als der Herr Kandidat begehrte, der Frau Sesemann seine
Aufwartung zu machen, indem er eine Besprechung über einen
merkwürdigen Gegenstand mit der Dame abzuhalten gedachte. Er wurde
auf ihre Stube berufen, und hier, wie er eintrat, streckte ihm Frau
Sesemann sogleich freundlich die Hand entgegen: "Mein lieber Herr
Kandidat, seien Sie mir willkommen! Setzen Sie sich her zu mir,
hier"—sie rückte ihm den Stuhl zurecht. "So, nun sagen Sie mir,
was bringt Sie zu mir; doch nichts Schlimmes, keine Klagen?"
"Im Gegenteil, gnädige Frau", begann der Herr Kandidat; "es ist
etwas vorgefallen, das ich nicht mehr erwarten konnte und keiner,
der einen Blick in alles Vorhergegangene hätte werfen können, denn
nach allen Voraussetzungen musste angenommen werden, dass es eine
völlige Unmöglichkeit sein müsse, was dennoch jetzt wirklich
geschehen ist und in der wunderbarsten Weise stattgefunden hat,
gleichsam im Gegensatz zu allem folgerichtig zu Erwartenden—"
"Sollte das Kind Heidi etwa lesen gelernt haben, Herr Kandidat?",
setzte hier Frau Sesemann ein.
In sprachlosem Erstaunen schaute der überraschte Herr die Dame an.
"Es ist ja wirklich völlig wunderbar", sagte er endlich, "nicht nur,
dass das junge Mädchen nach all meinen gründlichen Erklärungen,
und ungewöhnlichen Bemühungen das Abc nicht erlernt hat, sondern
auch und besonders, dass es jetzt in kürzester Zeit, nachdem ich
mich entschlossen hatte, das Unerreichbare aus den Augen zu lassen
und ohne alle weiter greifenden Erläuterungen nur noch sozusagen
die nackten Buchstaben vor die Augen des jungen Mädchens zu bringen,
sozusagen über Nacht das Lesen erfasst hat, und dann sogleich mit
einer Korrektheit die Worte liest, wie mir bei Anfängern noch
selten vorgekommen ist. Fast ebenso wunderbar ist mir die
Wahrnehmung, dass die gnädige Frau gerade diese fern liegende
Tatsache als Möglichkeit vermutete."
"Es geschehen viele wunderbare Dinge im Menschenleben", bestätigte
Frau Sesemann und lächelte vergnüglich; "es können auch einmal zwei
Dinge glücklich zusammentreffen, wie ein neuer Lerneifer und eine
neue Lehrmethode, und beide können nichts schaden, Herr Kandidat.
Jetzt wollen wir uns freuen, dass das Kind so weit ist, und auf
guten Fortgang hoffen."
Damit begleitete sie den Herrn Kandidaten zur Tür hinaus und ging
rasch nach dem Studierzimmer, um sich selbst der erfreulichen
Nachricht zu versichern. Richtig saß hier Heidi neben Klara und
las dieser eine Geschichte vor, sichtlich selbst mit dem größten
Erstaunen und mit einem wachsenden Eifer in die neue Welt
eindringend, die ihm aufgegangen war, nun ihm mit einem Mal aus den
schwarzen Buchstaben Menschen und Dinge entgegentraten und Leben
gewannen und zu herzbewegenden Geschichten wurden. Noch am selben
Abend, als man sich zu Tische setzte, fand Heidi auf seinem Teller
das große Buch liegen mit den schönen Bildern, und als es fragend
nach der Großmama blickte, sagte diese freundlich nickend: "Ja, ja,
nun gehört es dir."
"Für immer? Auch wenn ich heimgehe?", fragte Heidi ganz rot vor
Freude.
"Gewiss, für immer!", versicherte die Großmama; "morgen fangen wir
an zu lesen."
"Aber du gehst nicht heim, noch viele Jahre nicht, Heidi", warf
Klara hier ein; "wenn nun die Großmama wieder fortgeht, dann musst
du erst recht bei mir bleiben."
Noch vor dem Schlafengehen musste Heidi in seinem Zimmer sein
schönes Buch ansehen, und von dem Tage an war es sein Liebstes,
über seinem Buch zu sitzen und immer wieder die Geschichten zu
lesen, zu denen die schönen bunten Bilder gehörten. Sagte am Abend
die Großmama: "Nun liest uns Heidi vor", so war das Kind sehr
beglückt, denn das Lesen ging ihm nun ganz leicht, und wenn es die
Geschichten laut vorlas, so kamen sie ihm noch viel schöner und
verständlicher vor, und die Großmama erklärte dann noch so vieles
und erzählte immer noch mehr dazu. Am liebsten beschaute Heidi
immer wieder seine grüne Weide und den Hirten mitten unter der
Herde, wie er so vergnüglich, auf seinen langen Stab gelehnt,
dastand, denn da war er noch bei der schönen Herde des Vaters und
ging nur den lustigen Schäfchen und Ziegen nach, weil es ihn freute.
Aber dann kam das Bild, wo er, vom Vaterhaus weggelaufen, nun in
der Fremde war und die Schweinchen hüten musste und ganz mager
geworden war bei den Trebern, die er allein noch zu essen bekam.
Und auf dem Bilde schien auch die Sonne nicht mehr so golden, da
war das Land grau und nebelig. Aber dann kam noch ein Bild zu der
Geschichte: Da kam der alte Vater mit ausgebreiteten Armen aus dem
Hause heraus und lief dem heimkehrenden reuigen Sohn entgegen, um
ihn zu empfangen, der ganz furchtsam und abgemagert in einem
zerrissenen Wams daherkam. Das war Heidis Lieblingsgeschichte, die
es immer wieder las, laut und leise, und es konnte nie genug der
Erklärungen bekommen, welche die Großmama den Kindern dazu machte.
Da waren aber noch so viele schöne Geschichten in dem Buch, und bei
dem Lesen derselben und dem Bilderbesehen gingen die Tage sehr
schnell dahin, und schon nahte die Zeit heran, welche die Großmama
zu ihrer Abreise bestimmt hatte.
Heidi nimmt auf einer Seite zu und auf der anderen ab
Die Großmama hatte während der ganzen Zeit ihres Aufenthalts jeden
Nachmittag, wenn Klara sich hinlegte und Fräulein Rottenmeier,
wahrscheinlich der Ruhe bedürftig, geheimnisvoll verschwand, sich
einen Augenblick neben Klara hingesetzt; aber schon nach fünf
Minuten war sie wieder auf den Füßen und hatte dann immer Heidi auf
ihre Stube berufen, sich mit ihm besprochen und es auf allerlei
Weise beschäftigt und unterhalten.
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