Heimatlos
Johanna Spyri
Heimatlos
Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben
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Heimathlos. Zwei Geschichten für Kinder und auch für
Solche, welche die Kinder lieb haben. Von der Verfasserin von "Ein
Blatt auf Vrony's Grab". Gotha: Friedrich Andreas Perthes 1878; 235
S. Enthält: 1. Am Silser- und am Gardasee. 2. Wie Wiseli's Weg
gefunden wird. (1877)
Ein stilles Haus im Engadin
Im Oberengadin, an der Straße gegen den Malojapaß
hinauf, liegt das einsame Dörfchen Sils. Von der Straße
gelangt man querfeldein zu den Bergen, an die sich der kleine Ort
Sils-Maria anlehnt. Zwei Häuschen standen dort einander
gegenüber, ein wenig abseits in den Feldern. Beide hatten
uralte Haustüren aus Holz und ganz kleine Fenster tief in der
Mauer drinnen. Zu einem Haus gehörte ein kleines Stück
Garten; in ihm wuchsen Kraut und Kohl; es standen auch vier
Blumenstöcke darin, die sahen aber mager und aufgeschossen aus
wie das Kraut, Bei dem anderen Häuschen war nur ein kleiner
Stall neben der Tür; da liefen zwei Hühner aus und ein.
Dies Häuschen war noch kleiner als das andere und die
hölzerne Tür war schwarz vor Alter.
Aus dieser Tür trat jeden Morgen um dieselbe Zeit ein
großer Mann, der mußte sich bücken, um
hinauszukommen. Er hatte glänzend schwarze Haare und schwarze
Augen und unter der schön geformten Nase wuchs ein so dichter
Bart, daß Wangen und Kinn darunter verschwanden und auch vom
Mund nichts mehr zu sehen war als die weißen Zähne, die
durchschimmerten, wenn der Mann einmal sprach; aber er sprach sehr
wenig. Alle Leute in Sils kannten den Mann, aber niemand nannte ihn
bei seinem Namen, er hieß nur »der Italiener«. Er
ging regelmäßig den schmalen Weg querüber gegen
Sils hin und die Malojastraße hinauf. Es wurde viel an der
Straße gebaut, und dort hatte der Italiener seine Arbeit.
Ging er aber nicht den Weg hinauf, so ging er hinunter, dem Badeort
St. Moritz zu, wo man Häuser baute; auch hier fand er seine
Arbeit.
Da blieb er den Tag über und kehrte erst am Abend wieder in
das Häuschen zurück. Gewöhnlich, wenn er am Morgen
aus der Tür trat, stand hinter ihm ein Büblein; das
stellte sich auf die Türschwelle, wenn der Vater draußen
war, und schaute mit den großen dunklen Augen lange dem Vater
nach, oder sonst in die Gegend, man hätte nicht sagen
können, wohin. Es schien, als ob die dunklen Augen über
alles wegschauten, was vor ihnen lag, und auf etwas hinsah, das
niemand sehen konnte.
Am Sonntagnachmittag, wenn die Sonne schien, gingen die beiden
manchmal miteinander die Straße hinauf. Wenn man sie so sah,
erblickte man in den zwei Gestalten dasselbe Bild, nur bei dem
Büblein war alles kleiner. Es sah dem Vater gleich, bis auf
den schwarzen Bart, den es natürlich nicht haben konnte. Aber
ein schmales, bleiches Gesicht war zu sehen, und um den Mund herum
lag etwas Trauriges, wie wenn es nicht lachen möchte. Bei dem
Vater konnte man solches nicht entdecken, weil der Bart den
Gesichtsausdruck nicht erkennen ließ.
Wenn nun die beiden so nebeneinander hergingen, sagte keiner ein
Wort zu dem andern; meistens summte der Vater leise ein Lied,
manchmal auch lauter, und das Büblein hörte zu, Wenn es
aber am Sonntag regnete, saß der Vater daheim im
Häuschen auf einer Bank am Fenster und das Büblein neben
ihm, und sie sagten wieder nichts zueinander. Der Vater holte dann
eine Mundharmonika und spielte eine Melodie nach der andern; und
das Büblein hörte aufmerksam zu. Manchmal nahm er auch
einen Kamm oder ein Baumblatt und lockte Melodien daraus hervor,
oder er schnitt ein Stück Holz zurecht und pfiff darauf ein
Lied, Es war, als gäbe es keinen Gegenstand, dem er nicht
Musik entlocken könnte.
Einmal hatte er eine Geige mitgebracht, die das Büblein so
entzückte, daß es diese nicht wieder vergaß. Der
Vater spielte viele Lieder darauf, Das Büblein hörte
nicht nur, sondern schaute unverwandt zu. Als die Geige weggelegt
war, versuchte es leise, wie man die Melodien herausbringe. Das
geriet nicht schlecht, Der Vater lächelte und sagte: »So
komm!« Er legte die großen Finger seiner linken Hand
auf die kleinen, und mit der rechten nahm er die Hand des
Bübleins mitsamt dem Bogen; und so geigten sie mancherlei
Melodien.
Während der folgenden Tage, wenn der Vater fort war,
versuchte das Büblein immer wieder ein Lied zu spielen. Doch
als es soweit war, daß die Töne gut und ohne Stocken
erklangen, war die Geige wieder verschwunden und kam nie wieder zum
Vorschein, Manchmal, wenn sie so zusammensaßen, sang der
Vater, erst leise, dann immer deutlicher.
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