Das Büblein sang
mit, und wenn es die Worte nicht konnte, so sang es doch die
Töne. Der Vater sang italienisch, und es verstand vieles, aber
manches war ihm nicht so recht bekannt und geläufig zum
Singen. Eine Weise konnte es besser als alle anderen; denn der
Vater hatte sie vielhundertmal gesungen.
Sie gehörte zu einem langen Lied, das fing so an:
»Una sera in Peschiera« - Ein Abend in Peschiera. Die
sehr wehmütige Melodie gefiel dem Büblein so gut,
daß es ,immer freudig und ganz andächtig mitsang.Es
hatte eine helle, glockenreine Stimme, die schön mit des
Vaters Baß zusammenklang. Jedesmal, wenn dieses Lied zu Ende
gesungen war, klopfte der Vater dem Klei-nen freundlich auf die
Schulter und sagte: »Bene, Enrico, va bene.« - Gut,
Enrico, es geht gut. Der Knabe wurde aber nur vom Vater Enrico
genannt, bei allen anderen Leuten hieß er nur Rico.
Da war auch noch eine Base, die mit in dem Häuschen wohnte.
die flickte und kochte und alles in Ordnung hielt. Im Winter
saß sie am Ofen und spann. Rico mußte immer nachdenken,
wie er seine Wege einrichten könne; denn sobald er die
Tür aufmachte, sagte die Base: »Laß doch einmal
die Tür in Ruh, es wird ja ganz kalt in der Stube.« Er
war dann oft lange allein mit der Base. Der Vater hatte in der Zeit
irgendwo unten im Tal Arbeit und blieb viele Wochen lang fort.
Die Schule
Rico war zehn Jahr alt und hatte schon zwei Winter hindurch die
Schule besucht; denn im Sommer gab es droben in den Bergen keine
Schule. Der Lehrer hatte in dieser Zeit seinen Acker zu bestellen
und Gras zu mähen wie alle anderen Leute; zur Schule hatte
dann niemand Zeit, Das tat aber Rico nicht besonders leid, er
wußte sich schon zu unterhalten. Wenn er sich am Morgen auf
die Schwelle gestellt hatte, so blieb er dort stehen, schaute
hinaus mit träumenden Augen und bewegte sich nicht.
Stundenlang konnte er so stehen, wenn nicht drüben am andern
Häuschen die Tür aufging und ein kleines Mädel
herauskam, das lachend zu ihm herüberschaute. Rico lief dann
schnell hinüber, und die Kinder hatten sich schon wieder seit
gestern viel zu sagen. Das Mädchen hieß Stineli und war
gerade so alt wie Rico; sie hatten miteinander angefangen in die
Schule zu gehen und waren in derselben Klasse; schon von jeher
waren sie gern beieinander gewesen. Es war ja nur ein schmaler Weg
zwischen den Häuschen, und sie waren die allerbesten
Kameraden.
Rico hatte auch nur diese einzige Freundschaft; denn mit den
Buben ringsum hatte er keine Freude. Wenn sie sich prügelten
und auf dem Boden herumwarfen und sich auf die Köpfe stellten,
ging er davon und schaute nicht einmal zurück. Wenn sie aber
riefen: »Jetzt wollen wir einmal den Rico
prügeln«, dann stand er still und stellte sich geradeauf
hin und sagte nichts; aber er schaute sie mit seinen dunklen Augen
so merkwürdig an, daß ihn keiner anpackte.
Bei Stineli war es ihm wohl zumute. Das Mädchen hatte ein
lustiges Stumpfnäschen und darüber zwei braune Augen, die
immerfort lachten, Um den Kopf hatte es zwei dicke, braune
Zöpfe gebunden, die sahen sehr sauber aus; denn Stineli war
ordentlich und wußte sich zu helfen, Sie war auch in einer
guten Schule Tag für Tag. Stineli war wohl kaum zehn Jahre
alt, aber sie war die älteste Tochter und mußte der
Mutter überall helfen, und da war viel zu tun. Denn nach
Stineli kamen noch Trudi und Sami und Peterli und Urschli und
Anne-Deteli und Kunzli und dann noch das Ungetaufte. Immerfort rief
man nach Stineli aus allen Ecken, und sie war dabei so flink
geworden, daß alles, was sie tat, wie von selbst lief, Den
Kleinen hatte sie immer schon drei Strümpfe und zwei Schuhe
angezogen und festgebunden, ehe Trudi dem einen, dem sie helfen
sollte, nur die Beine dazu in die rechte Stellung gebracht hatte.
Und wenn in der Stube die kleinen Kinder und in der Küche die
Mutter miteinander nach Stineli riefen, konnte geschehen, daß
der Vater noch aus dem Stall nach ihr rief, Er hatte dort die
Mütze verlegt, oder die Peitsche war verknüpft und
Stineli mußte ihm helfen; denn sie fand die Mütze immer
sofort. Sie lag meistens auf dem Futterkasten, und ihre gelenkigen
Finger brachten die Peitschenschnur gleich auseinander.
So war Stineli immerfort im Laufen und am Arbeiten, aber lustig
und munter dabei, und im Winter froh über die Schule; denn
dann wanderte sie dahin und wieder heim mit Rico, und in der Pause
gingen sie auch zusammen, Und im Sommer war sie wieder froh, da gab
es schöne Sonntagabende, an denen durfte sie hinaus, Dann ging
sie mit Rico spazieren, der schon lange unter seiner Tür
gewartet hatte, und sie liefen Hand in Hand über die
große Wiese hin nach der bewaldeten Anhöhe drüben,
die weit in den See hinausgeht wie eine Insel. Dort oben
saßen sie unter den Tannen, schauten in den grünen See
hinunter und hatten einander viel zu erzählen und zu fragen;
und es war ihnen so wohl, daß Stineli sich die ganze Woche
und durch alle Mühen hindurch freute; denn es wurde immer
wieder Sonntag.
In dem Häuschen war noch jemand, der dann und wann nach
Stineli rief, das war die alte Großmutter, Die rief aber
nicht, damit sie ihr noch helfe, sondern sie hatte ihr etwa ein
kleines Geldstück zu geben, das ihr in die Hand kam, oder
sonst etwas; denn Stineli war ihr Liebling, und sie erkannte mehr
als sonst jemand, wieviel die kleine Helferin schon tun mußte
für ihr Alter, mehr als die meisten Kinder. Darum gab sie ihr
gern etwas, daß sie auch, wie andere Kinder, am Jahrmarkt
etwas kaufen könne, etwa ein rotes Bändchen oder ein
Nadelbüchschen, Die Großmutter war auch gegen Rico sehr
gut, sah die Kinder gern beisammen und tat auch manchmal etwas
für St.ineli, daß sie mit Rico noch ein wenig
draußen bleiben durfte.
An den Sommerabenden saß sie immer vor dem Häuschen
auf dem Holzklotz, der da lag; oft standen Stineli und Rico bei
ihr, und sie erzählte ihnen aus ihrem Leben, Wenn dann die
Abendglocke vom Türmchen läutete, sagte sie: »Jetzt
müßt ihr ein Vaterunser beten. Ihr dürft nie
vergessen, daß man am Abend sein Vaterunser beten
muß,« - »Seht, Kinder«, sagte die
Großmutter ein andermal, »,ich habe schon lange gelebt
und viel gesehen, und ich kenne nicht einen, der nicht einmal in
seinem Leben sein Vaterunser nötig gehabt hätte, aber ich
kenne manchen, der es mit der Angst gesucht und nicht mehr gefunden
hat, wenn die Not da war,« Dann standen Stineli und Rico ganz
andächtig da, und jedes betete ein Vaterunser.
Jetzt war es Mai, und eine kleine Zeit mußte die Schule
noch geöffnet bleiben, Lange konnte dies aber nicht mehr
dauern, denn es grünte unter den Bäumen, und große
Flächen waren ganz frei von Schnee. Rico stand schon eine
Weile unter der Tür und stellte diese Betrachtungen an. Dabei
schaute er immer wieder nach der Tür drüben, ob sie noch
nicht aufgehen wollte, Jetzt ging sie auf, und Stineli kam
herausgesprungen.
,Bist du schon lange dagestanden? Hast du wieder geschaut,
Rico?« rief sie lachend, »Aber heute ist's noch
früh, wir können langsam gehen.«
Jetzt nahmen sie einander bei der Hand und wanderten der Schule
zu.
»Denkst du immer noch an den See?« fragte Stineli im
Gehen. »Ja, gewiß«, versicherte Rico mit ernstem
Gesicht. »Einmal träumte mir von ihm, Ich sah
große, rote Blumen an seinem Ufer, und drüben die
violetten Berge.«
»Ach, das gilt nicht, was man träumt«, sagte
Stineli lebhaft, »Es hat mir auch einmal geträumt, der
Peterli kletterte ganz allein auf die allerhöchste Tanne
hinauf, und wie er auf dem obersten Zweiglein saß, war's nur
noch ein Vogel, und er rief herunter: ,Stineli, zieh mir die
Strümpfe an«. Jetzt siehst du doch, daß das nichts
sein kann,«
Rico mußte stark nachdenken, ob das so sei; denn in ihm
lebte eine Erinnerung, von der er annahm, er habe sie im Traum
erlebt.
Aber jetzt waren sie beim Schulhaus angelangt, und ein ganzer
Trupp Kinder lärmte von der anderen Seite daher, Sie traten
alle miteinander ein, und bald nachher kam auch der Lehrer. Der war
ein alter Mann mit dünnen, grauen Haaren; denn er war schon
undenklich lange Lehrer gewesen, so daß ihm darüber die
Haare grau geworden und viele ausgefallen waren, Es ging nun an ein
strenges Buchstabieren und Silbentrennen, dann kam das Einmaleins
an die Reihe, und zuletzt kam der Gesang.
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