Jetzt wurde das Pförtchen am Zaun geöffnet, und Silvio richtete sich auf. Ein langer schwarzer Rock näherte sich; es war der Herr Pfarrer. Diesmal verkroch sich Silvio nicht ins Loch. Er streckte seine Hand, soweit er konnte, dem wohimeinenden Herrn entgegen, lange, ehe dieser nur halbwegs im Garten angekommen war. Der Empfang gefiel dem Besucher. Er trat gleich in die Stube und an Silvios Bett, obschon er die Mutter hinten im Garten sah und sagte: »So ist's recht, mein Sohn, und wie steht es mit der Gesundheit? - «Gut«, entgegnete Silvio schnell. Er schaute in höchster Spannung sein Gegenüber an und fragte dann halblaut: »Wann kann Rico gehen?«

Der Pfarrer setzte sich am Bett nieder und sagte feierlich: Morgen um fünf Uhr wird Rico reisen, mein Söhnchen.«

Frau Menotti war eben eingetreten, und nun ging es an ein Fragen und Verwundern von ihrer Seite, daß der Pfarrer Mühe hatte, seinen Bericht zu beginnen. Es gelang ihm endlich, und Silvio hielt seine Augen auf ihn geheftet wie ein kleiner Sperber, als nun die Erzählung kam.

Der Herr Pfarrer kam eben von Bergamo her, wo er zwei Tage zugebracht hatte. Da hatte er mit Hilfe seiner Freunde einen Pferdehändler ermittelt, der kam schon seit dreißig Jahren jeden Herbst nach Bergamo und kannte alle Wege und Gegenden von da bis weit über die Berge hinaus, wo Rico hin mußte. Er wußte, wie man in die Berge hinaufkommen konnte, ohne unterwegs auszusteigen und zu übernachten. Den Weg machte er selbst und wollte den Rico mitnehmen, wenn er am Morgen mit dem ersten Zug in Bergamo ankomme. Der Mann kannte auch alle Kutscher und Schaffner und wollte für die Rückkehr den Jungen und seine Begleiterin den Leuten übergeben und an-empfehlen, so daß sie sicher reisen würden.

So fand der Pfarrer, man könne nun Rico in Frieden ziehen lassen, und gab seinen Segen zu der Reise.

Als er aber schon am Gartenzaun stand, kehrte Frau Menotti, die ihn begleitet hatte, noch einmal um und fragte voller Besorgnis: »Ach, Herr Pfarrer - wird auch sicher keine Gefahr sein, daß Rico sich auf den verwirrenden Wegen verlieren könnte und dann in den wilden Bergen umherirren mußte?«

Der Pfarrer beruhigte die Frau nochmals, und nun ging sie zurück und bedachte, was nun alles für Rico zu tun sei. Dieser trat eben in den Garten ein, und das Freudengeschrei, das ihm Silvio entgegensandte, war so durchdringend, daß Rico in drei Sprüngen am Bett war, um zu sehen, was sich da ereignet habe.

»Was hast du? Was hast du?« fragte Rico immerzu, und Silvio rief in einem fort: «Ich will's sagen! Ich will's sagen!« vor lauter Angst, die Mutter komme ihm zuvor. Diese ließ die Buben mit ihrer Freude allein und ging ihrem Geschäfte nach; denn das war nun das Wichtigste. Sie holte einen Reisesack hervor und stopfte unten hinein ein riesiges Stück geräuchertes Fleisch, einen halben Laib Brot, ein großes Paket gedörrter Pflaumen und Feigen, und eine Flasche Wein. Dann kamen die Kleider, zwei Hemden, zwei Paar Strümpfe, und ein Paar Schuhe und Taschentücher, und bei alledem war der Mutter Silvios nicht anders zumute, als reise Rico nach dem fernsten Weltteil? und sie merkte nun erst recht, wie lieb Rico ihr war, so daß sie ohne ihn fast nicht mehr sein konnte.

Sie mußte, während sie packte, immer wieder denken: »Wenn es nur kein Unglück gibt!«

Nun kam sie mit dem Reisesack herunter und ermahnte Rico, jetzt gleich hinzugehen und der Wirtin alles gut zu erklären und sie zu bitten, daß sie ihn auch gehen lasse und nichts dagegen habe. Den Sack könne er gleich zur Bahn bringen.

Rico war äußerst erstaunt, daß dies sein Gepäck sein sollte, er tat aber folgsam, wie ihm geheißen wurde und ging dann zur Wirtin. Er erzählte dieser, daß er in die Berge hinauf müsse und Stineli herunterholen, und es komme vom Herrn Pfarrer her, daß er gleich morgen um fünf Uhr fort müsse. Der Wirtin flößte schon ein wenig Achtung ein, daß der Herr Pfarrer mit der Sache zu tun hatte. Sie wollte wissen, wer Stineli sei, dachte gleich, das könnte etwas für sie sein, mußte aber hören, daß das Mädchen zu Frau Menotti komme. Da ließ sie die Sache gehen; denn der Frau Menotti wollte sie nichts in den Weg legen. Sie war zufrieden, daß diese ihr den Rico so ruhig überlassen hatte. Sie nahm auch an, Stineli sei Ricos Schwester, er sage es nur nicht, wie er überhaupt nie etwas von seinen Familienverhältnissen erwähnt hatte.

So erzählte sie auch noch denselben Abend allen Gästen, die ins Haus kamen, Rico hole morgen seine Schwester herunter; denn er habe erfahren, wie gut man es hier unten haben könne.

Nun wollte sie aber auch zeigen, wie sie es mit Rico meinte. Sie holte einen großen Korb vom Estrich herunter und steckte ihn voller Würste, Käse und Eier, Brotschnitten mit fingerdicker Butter dazwischen und sagte:

Auf der Reise sollst du keinen Hunger haben, und was mehr ist, kannst du dort oben verzehren. Da wirst du nicht viel finden, und für den Heimweg mußt du auch noch etwas haben. Denn du kommst doch wieder, Rico, sicher?«

»Sicher,«, sagte Rico, »in acht Tagen bin ich wieder da.« Nun trug Rico noch seine Geige zu Frau Menotti; denn die hätte er sonst niemand anvertraut. Dann nahm er Abschied.

Zurück ins Engadin

Am Morgen, lange vor fünf Uhr, stand Rico fertig auf dem Bahnsteig und konnte kaum erwarten, daß es vorwärts ging. Nun saß er im Wagen wie vor drei Jahren, aber nicht mehr so furchtsam in die Ecke gedrückt, mit der Geige in der Hand. Jetzt brauchte er eine ganze Bank; denn neben ihm lagen Sack und Korb, die brauchten reichlich Platz. In Bergamo traf er richtig mit dem Pferdehändler zusammen, und nun reisten sie ungestört weiter, noch ein gutes Stück in demselben Wagen, dann über den See. Sie stiegen aus und gingen zu einem Wirtshaus, wo schon die Pferde vor dem großen Postwagen geschirrt standen. Rico erinnerte sich deutlich, wie er auf seiner ersten Reise allein hier in der Nacht gewartet hatte, als die Studenten fortgegangen waren.