Er streckte schnell seine kleine magere Hand zum Gruß aus und sagte: »Ricos Stineli!

Die Mutter mußte erklärend dazwischen treten; denn der Pfarrer schüttelte verwundert den Kopf, während er sich an Silvios Bett niedersetzte. Sie erzählte ihm nun die ganze Sache mit Stineli, und wie der kleine Silvio sich in den Kopf gesetzt habe, es werde ihm nie mehr wohl, wenn StineIi nicht zu ihm komme. Wie Rico nun auch unvernünftig geworden sei und meine, er könne das Mädchen holen, während er keinen Weg und Steg wisse und es ja so weit weg oben in den Bergen wohne, wo niemand hinkomme und man nicht wissen könne, was für ein schreckliches Volk da sei. Man könne sich denken, wie es da zugehen müsse, wenn ein zartes Büblein wie Rico lieber Gefahren entgegenlaufe und sie bestehe, als unter solchen Leuten zu bleiben. Wenn alles anders wäre, fügte Frau Menotti hinzu, wäre ihr kein Geld zuviel, dieses Mädchen kommen zu lassen, um Silvio das Verlangen zu erfüllen und jemand für ihn zu haben; denn manchmal werde es ihr fast zuviel mit allem, was sie zu tragen habe. Und Rico, der sonst vernünftig rede, meine, kein Mensch könne ihr so gut in allem beistehen, wie Stineli. Er müsse sie gut kennen, und wenn sie so sei, wie er sie beschreibe, so könnte es auch noch eine Wohltat für so ein Mädchen sein, wenn es da droben wegkomme; aber sie wüßte keinen Menschen, der ihr einen solchen Dienst tun würde.

Der alte Herr hatte ganz ernsthaft zugehört und kein Wort gesagt, bis Frau Menotti fertig war. Er hätte auch nicht gut mit Worten dazwischenkommen können; denn sie hatte ihr Herz lange nicht ausgeschüttet, und es war ihr so voll geworden, daß sie bei dem großen Andrang der Worte fast um den Atem gekommen war.

Als nun aIles still war, nahm er erst ganz ruhig noch eine Prise zu der vorhergehenden, dann sagte er gelassen:

»Hm, hm, Frau Menotti, ich glaube fast, sie haben von den Leuten da droben, eine Meinung, die zu schlecht ist. Es gibt doch auch noch Christen da, und seit man so allerhand Mittel erfunden hat, um weiterzukommen, wird es auch noch möglich sein, daß einer ohne Gefahr dort hinaufkommt. Das wird man gewiß in Erfahrung bringen können. Man muß sich besinnen. «

Hier muß der Pfarrer sich erst wieder ein wenig stärken aus seiner Dose, dann fügte er bei: »Es gibt allerlei Händler, die von da oben herunter nach Bergamo kommen, Schafhändler und Pferdehändler, die müssen die Wege wissen. Man kann sich erkundigen, und dann muß man sich besinnen. Es wird sich doch ein Mittel finden lassen. Wenn Ihnen vid daran liegt, Frau Menotti, will ich mich umsehen. Ich komme alle Jahre ein- oder zweimal nach Bergamo, darum könnte ich die Sache ein wenig in die Hand nehmen.«

Silvio hatte während des ganzen Gesprächs den Besucher mit seinen grauen Augen fast durchbohrt vor Spannung. Als dieser nun aufstand und dem Kleinen die Hand zum Abschied bot, patschte Silvia die seinige ganz gewaltig hinein, so als wollte er sagen: diesmal gilt's! Der Pfarrer versprach, Bericht zu geben, sobald er seine Erkundigungen eingezogen hätte und wüßte, ob die Sache ausführbar wäre, oder ob Silvio von seinem Begehren abstehen müsse.

Nun vergingen die Wochen; eine nach der anderen mußte Silvio das Warten lernen, aber er hielt sich gut. Er hatte eine bestimmte Hoffnung vor Augen, und dazu war Rico auf einmal so unterhaltend und lebendig geworden, wie noch nie. Er wußte Silvio mehr zu erzählen als je, und nahm er seine Geige zur Hand, kamen so herzerquickende Töne und Weisen daraus hervor, daß Frau Menotti gar nicht mehr aus dem Zimmer wegmochte und sich nicht genug verwundern konnte, woher Rico das alles nahm.

Mit jedem Tag kam Rico lieber in das Haus, und oft, wenn er eintrat, dachte er: so ist es wohl einem zumute, der heimkommt. Aber er war hier ja nicht daheim; er durfte nur für ein paar Stunden kommen und mußte immer wieder gehen.

In der letzten Zeit war etwas in Rico gefahren, das die Wirtin manchmal in große Verwunderung versetzte. Wenn sie etwa das schmutzige, zerbrochene Abfallbecken vor ihn hinstellte und sagte: »Da, Rico, bring es den Hühnern!« - stellte er sich auf die Seite und legte die Hände auf den Rücken, zum Zeichen, daß er das Becken nicht berühren möge. Dann sagte er ruhig: »Ich wollte lieber, das täte jemand anderes!«

Und wenn sie die alten Schuhe hervorbrachte und Rico in die Hand geben wollte, daß er sie zum Schuhilicker trage, tat Rico wieder desgleichen und sagte: » Ich wollte lieber, es ginge ein anderer! «

Die Wirtin war eine kluge Frau und hatte ihre Augen im Kopfe, um damit zu sehen, was vorging, und so war ihr nicht entgangen, wie Rico sich seit einiger Zeit verändert hatte und wie er aussah. Frau Menotti hatte ihn immer gut gekleidet, seit sie die Verpflichtung dazu übernommen hatte. Weil aber dem Rico alles gut stand, und er immer mehr aussah wie ein Herrensöhnchen, bekam Frau Menotti ihre Freude daran und kleidete ihn womöglich noch besser. Rico ging sorgsam und ordentlich damit um; denn er mochte gern, was schön anzusehen war, und Schmutz und Unordnung waren ihm zuwider wie der Lärm. Das sah die Wirtin alles, und dazu war ihr wohlbewußt, wie Rico immer noch, wenn er von Tanzbelustigungen heimkehrte, seine Tasche vor ihr ausleerte und das Geld hinrollen ließ, ohne Miene zu machen, als ob er etwas davon begehre.

Er brachte immer mehr; denn er war nicht nur Tanzgeiger wie die anderen. Man wollte auch immer noch nach dem Tanzen seine Lieder hören und allerhand Melodien, die er wußte. So war der Wirtin daran gelegen, den Rico wiIlig zu erhalten, und sie ließ ihn in Ruhe mit den Hühnern und den alten Schuhen und begehrte diese Dienste nicht mehr von ihm.

Über all diesen Ereignissen vergingen drei Jahre, seit Rico in Peschiera erschienen war. Er war nun cm vierzehnjähriger, aufgeschlossener Junge geworden, und wer ihn sah, hatte sein Wohlgefallen an ihm.

Wieder leuchteten die goldenen Herbsttage über den Gardasee, und der blaue Himmel lag auf der stillen Flut. Im Garten hingen die Trauben golden an den Ranken, und die roten Oleanderblumen funkelten im lichten Sonnenschein. In Silvios Stube war es ganz still. Die Mutter war draußen, um Trauben und Feigen zum Abend hereinzuholen. Silvio lauschte auf Ricos Tritt; denn die Zeit seines Besuches war gekommen.