Da holte der Lehrer seine
alte Geige hervor und stimmte sie, und nun ging es an, und alle
sangen aus voller Kehle: »Ihr Schäflein hinunter von
sonniger Höh«, und der Lehrer spielte dazu auf der
Geige.
Rico schaute so gespannt auf die Geige und des Lehrers Finger,
wie dieser die Saiten griff, daß er darüber das Singen
vergaß und keine.n Ton mehr von sich gab. Plötzlich fiel
die ganze Sängerschar einen halben Ton hinunter, Die Geige
wurde dadurch unsicher und fiel nach, und die Sänger fielen
noch tiefer, und man kann gar nicht wissen, wie tief hinunter alles
miteinander gefallen wäre; aber jetzt warf der Lehrer die
Geige auf den Tisch und rief erzürnt: »Was ist das
für ein Gesang? ihr unvernünftigen Schreier! Wenn ich
doch wüßte, wer so falsch singt und den ganzen Gesang
verdirbt!«
Da sagte der kleine Bub, der neben Rico saß: »Ich
weiß schon, warum es so gekommen ist; allemal geht es so,
wenn der Rico aufhört zu singen.«
Dem Lehrer war es selbst nicht so ganz unbekannt, daß
nicht nur der Gesang, sondern auch die Geige am sichersten ging,
wenn Rico fest mitsang.
»Rico, Rico, was muß ich hören«, sagte er
ernsthaft zu diesem gewandt. »Du bist sonst ein ordentliches
Büblein, aber Unachtsamkeit ist ein großer Fehler, das
hast du jetzt gesehen. Ein einziger unachtsamer Schüler kann
den Gesang verderben. Jetzt wollen wir noch einmal anfangen, und
daß du aufpassest, Rico!«
Nun setzte Rico mit fester, klarer Stimme ein, die Geige folgte
nach, und die Kinder sangen aus allen Kräften mit, so
daß es ganz herrlich anzuhören war bis zum Schluß.
Da war der Lehrer sehr zufrieden; er tat noch ein paar feste
Striche auf der Geige, rieb sich dann die Hände und sagte
vergnüglich: »Es ist auch ein Instrument
danach.«
Die Geige des alten Schullehrers
Vor der Tür hatten sich Stineli und Rico bald aus der Schar
herausgemacht und zogen zusammen ihren Weg.
»Hast du vor lauter Staunen nicht mehr mitgesungen,
Rico«, fragte jetzt Stineli, »Ist dir etwa auf einmal
der See in den Sinn gekommen?«
»Nein, etwas anderes«, sagte Rico; »ich
weiß jetzt, wie man spielt: ,Ihr Schäflein hinunter?.
Wenn ich nur eine Geige hätte!«
Dieser Wunsch mußte Rico schwer auf dem Herzen liegen;
denn er sagte es mit einem tiefen Seufzer. Stineli war voller
Teilnahme und unternehmender Gedanken,
»Wir wollen zusammen eine kaufen«, rief sie
plötzlich in großer Freude über den Einfall, der
ihr in den Sinn gekommen war. »Ich habe ganz viele Batzen von
der Großmutter, etwa zwölf; wie viele hast
du?«
»Gar keinen«, sagte Rico traurig; »der Vater
hat mir ein paar gegeben, ehe er fortging, aber die Base hat
gesagt, Geld tauge nicht für mich. Sie hat es genommen und
hoch hinauf in den Kasten gelegt; ich kann nicht mehr
daran.«
Stineli ließ sich nicht so bald entmutigen.
»Vielleicht haben wir doch Geld genug, und die
Großmutter gibt mir schon noch ein wenig«, sagte sie
tröstend. »Weißt du, Rico, eine Geige kostet nicht
viel; es ist nur altes Holz, vier Saiten sind darüber
gespannt, das kostet nicht viel. Du mußt nur morgen den
Lehrer fragen, was eine Geige kostet, und nachher suchen wir
eine.
So blieb es ausgemacht, und Stineli dachte, sie wolle daheim
tun, was sie nur könne, und ganz früh aufstehen und das
Feuer anmachen, eh die Mutter auf sei; denn wenn sie so immerfort
etwas tat von früh bis spät, steckte ihr gewöhnlich
die Großmutter einen Batzen in den Sack.
Am folgenden Morgen als die Schule aus war, ging Stineli allein
hinaus, und an der Ecke vom Schulhaus stand sie still hinter dem
Holzhaufen und wartete auf Rico, der jetzt den Lehrer wegen der
Geige fragen sollte. Er kam lange nicht heraus, und Stineli guckte
immer wieder mit Ungeduld hinter dem Holz hervor; aber es waren nur
die anderen Buben, die noch da und dort herumstanden. Aber jetzt -
richtig, Rico kam um den Holzhaufen herum. Da war er.
»Was hat er gesagt, was kostet sie?« rief Stineli
mit angehaltenem Atem vor Erwartung.
»Ich habe nicht fragen mögen«, antwortete Rico
verzagt.
,0 wie schade!« sagte Stineli und stand ganz
verblüfft da, aber nicht lange. »Es ist gleich,
Rico«, sagte sie wieder fröhlich und nahm ihn bei der
Hand zum Heimgehen, »du kannst morgen fragen. Ich habe auch
schon wieder einen Batzen bekommen heute früh von der
Großmutter, weil ich schon auf war, als sie in die Küche
kam. «
Aber am folgenden Tag ging es wieder wie vorher, und am dritten
auch; Rico blieb immer eine halbe Stunde lang vor der Wohnstube des
Lehrers stehen und mochte nicht hineingehen und fragen. Da dachte
Stineli heimlich: Wenn er noch drei Tage lang nicht fragt, dann
frag ich. Am vierten Tage, als Rico wieder nachdenklich und zaghaft
an der Tür stand, ging diese plötzlich auf, und der
Lehrer trat eilig heraus und stieß so gewaltig gegen Rico an,
daß däs kleine Büblein ein gutes Stück
rückwärts flog. In großem Erstaunen und ziemlichem
Unwillen stand der Lehrer da. ,Was ist, Rico?« fragte er
jetzt, als der Kleine wieder am Platze stand. »Warum kommst
du an die Tür und klopfst nicht an, wenn du da etwas willst?
Solltest du mir etwas sagen wollen, kannst du's gleich hier tun,
Was willst du also?«
»Was kostet eine Geige?« fragte Rico vor lauter
Angst in voller Hast.
Des Lehrers mißbilligendes Erstaunen wuchs sichtlich.
»Rico, was muß ich von dir denken?« fragte er mit
strenger Miene; »kommst du deshalb an die Tür deines
Lehrers, um unnütze Fragen an ihn zu richten? Oder was hast du
sonst damit sagen wollen?«
»Ich habe nichts sagen wollen«, entgegnete Rico
schüchtern, »nur fragen, was eine Geige
kostet.«
,Du hast mich nicht verstanden, Rico. Paß jetzt auf, was
ich dir sage: ein Mensch spricht etwas aus und denkt sich dabei
einen Zweck, oder er denkt sich nichts dabei, dann macht er
unnütze Worte. Hast du soeben diese Frage ohne Grund getan,
oder aus Neugierde, oder hat dich jemand geschickt, der eine Geige
kaufen will?« »Ich möchte mir gerne eine
kaufen«, sagte Rico ein wenig herzhafter; aber er erschrak
sehr, als der Lehrer mit einemmal in hellem Zorn ihn anfuhr:
»Was? Was sagst du da? So ein - dummes, unvernünftiges,
welsches Büblein, wie du eins bist, eine Geige kaufen?
Weißt du denn, was eine Geige ist? Weißt du, wie alt
ich war und was ich gelernt hatte, eh ich eine Geige anschaffen
konnte? Lehrer war ich, fertiger Lehrer, zweiundzwanzig Jahre alt,
und stand in meinem Beruf! Und dann so ein Büblein, wie du
eins bist! Und jetzt will ,ich dir sagen, was eine Geige kostet, so
kannst du deinen Unverstand bemessen. Sechs harte Gulden habe ich
dafür bezahlt; kannst du dir die Summe vorstellen? Wir wollen
sie gleich einmal in Batzen auflösen: Enthält ein Gulden
100 Batzen, so enthalten sechs Gulden sechsmal 100, gleich? -
gleich? - Nun, Rico, du bist sonst keiner von den Ungeschickten, -
gleich?«
»Gleich 600 Batzen«, ergänzte Rico leise; denn
der Schrecken versagte ihm die Stimme, nun er die Summe
überschaute und Stinelis zwölf Batzen damit verglich.
»Und dann, Büblein«, fuhr der Lehrer weiter
fort, »was denkst du? Meinst du, es nimmt einer eine Geige
nur in die Hand und spielt? Da muß er viel lernen, bis er so
weit ist. Komm gleich einmal da herein.« Der Lehrer machte
die Tür auf und nahm die Geige von der Wand. »Da nimm
sie einmal in den Arm und den Bogen in die Hand. So, Büblein,
und wenn du nun c d e f herausbringst, so geb ich dir gleich einen
halben Gulden.« Rico hatte wirklich die Geige im Arm; seine
Augen leuchteten auf wie Feuer. c d e f - spielte er fest und
völlig richtig.
»Du Erzblitzbub«, rief der Lehrer überrascht
aus, »woher kannst du das? Wer hat dich's gelehrt? Wie kannst
du die Töne finden?«
»Ich kann noch etwas, wenn ich's spielen darf«,
sagte Rico und schaute mit Verlangen auf die Fiedel in seinem Arm.
»Spiels!« sagte der Lehrer. Jetzt spielte Rico sicher
und eilt freudefunkelnden Augen:
»Ihr Schäfleln, hinunter Von sonniger Höh, Der
Tag ging schon unter, Für heute ade!«
Der Lehrer hatte sich auf einen Stuhl niedergelassen und die
Brille aufgesetzt. Er schaute mit ernster Prüfung jetzt auf
Ricos Finger, dann auf seine funkelnden Augen, dann wieder auf die
Finger.
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