Hemmungslos: Roman

Hugo Bettauer

Hemmungslos

Roman

Abstieg eines verabschiedeten Offiziers zum Raubmörder

ISBN: 3548371485

Ullstein TB-Vlg., B.

Erscheinungsdatum: 1988

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Der Autor

Geb. 18.8.1872 Wien, gest. 26.3.1925 Wien.

Der Sohn eines Börsenmaklers verbrachte seine Schulzeit in Wien. 1899 übersiedelte er nach New York und wurde amerikanischer Staatsbürger. Als Journalist ging er nach Berlin; dort griff er die Berliner Polizei und preußische Beamte wegen Bestechlichkeit an. Nachdem er die Korruption des Direktors der Berliner Hoftheater aufgedeckt hatte, der darauf Selbstmord beging, mußte Bettauer Preußen verlassen. Er ging nach Hamburg, 1904 wieder nach New York, wo er als Reporter der

»Deutschen Zeitung« und als Schriftsteller arbeitete; er schrieb Fortsetzungsromane für die Einwanderer. 1910 kehrte er nach Wien zurück und verfaßte bis 1924 eine Reihe von Kriminalromanen. Ab 1924 war er Mitherausgeber von Sie und Er. Wochenschrift für Lebenskunst und Erotik; die Zeitschrift wurde als sittengefährdend beschlagnahmt. In dem anschließenden Prozeß wurde er zwar freigesprochen, aber von Antisemiten verfolgt und in seiner Redaktion von einem fanatischen Nationalsozialisten ermordet.

I. TEIL

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I. KAPITEL

Koloman Freiherr von Isbaregg oder Kolo Isbaregg, wie er sich seit der Neuordnung der Dinge nach dem Umsturz kurz nannte, ging langsam, schlaff, schleppend über den Graben und hatte Hunger. Er spielte förmlich mit diesem Bewußtsein des Hungerns, verstrickte sich in den Gedanken, nun schon den zweiten Tag nichts gegessen zu haben, und verhöhnte sich selbst damit. „Ich Kretin, ich Trottel hungere," sagte er in sich hinein und machte dabei ein böses, hartes Gesicht.

Immerhin, als im Menschengewühl ein schönes, blondes Mädchen, das förmlich nach Eleganz roch und eine Wolke von Anmut mit sich trug, an ihm vorbeischritt und ihn dabei unwillkürlich leicht streifte, da richtete er sich auf, straffte seine müden, ein wenig zusammengesunkenen Glieder, drehte sich um und schritt der Reizvollen nach.

Aber die Gedanken kehrten zum Refrain „Ich hungere"

zurück und er verlor die Gestalt aus den Augen und blieb müde an der Ecke des Equitable-Gebäudes stehen, griff mit der schlanken, schmalen Hand nach der Schläfe und fühlte, wie der Hunger aus den Gedärmen und dem Magen nach oben in den Schädel kroch, wo er sich durch dumpfes Pochen und leichte Stiche bemerkbar machen wollte.

Kolo lachte so laut auf, daß Vorübergehende neugierig nach ihm starrten. Es fiel ihm ein, daß er eigentlich schon recht oft gehungert habe, länger und schmerzlicher sogar, aber doch ganz anders als heute. In den Wintertagen des Jahres 1915 war er mit seinem ganzen Regiment bei irgend einem furchtbaren Kampf um eine Karpathenhöhe drei Tage ohne Nahrung geblieben und dann wieder einmal auf der Hochfläche von Asiago und einmal bei einem Vormarsch in Albanien und ganz zum Schluss des Weltkrieges in der Hohe von fast 3000 Metern in den Tiroler Alpen. Aber was war das für ein Hunger gewesen! Ein herrlicher, heroischer Soldatenhunger und man war umgeben

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von Kameraden und Soldaten, die ebenso hungerten. Es war ein Hunger, dem man laut fluchen und zürnen durfte und für den man Gott und die Welt, den blöden Generalstab und vor allem das Vieh von einem Divisionär verantwortlich machen konnte!

Jetzt aber war das ein schäbiges, erbärmliches, einsames Hungern, das man verbergen mußte, wollte man sich nicht zum Straßendreck legen!

Und wie er so gewissermaßen mit seinem Hunger haderte und Zwiegespräche hielt, glitt die Vergangenheit an ihm vorbei und er kaute sich die eigene Lebensgeschichte vor, wie es immer nur Menschen zu tun pflegen, wenn sie an Qualen würgen. Niemals beschäftigt man sich in den frohen und großen Augenblicken des Lebens mit der Vergangenheit.

Koloman Freiherr von Isbaregg war der letzte Sprosse eines vornehmen, alten Geschlechtes, das sich im Laufe der Jahrhunderte mit böhmischem und magyarischem, mit polnischem und sogar türkischem Blut gemischt hatte. Je seltsamer und exotischer aber die Frauen beschaffen waren, die sich den steierischen Baronen zu Isbaregg ins Ehebett legten, desto fahriger, toller und hemmungsloser wurden die nachkommenden Männer, bis Gut auf Gut, Schloß auf Schloß und Kleinod auf Kleinod ihren Händen entschwand, und schließlich von Kaiser Josefs Zeiten an die Isbareggs als tapfere Offiziere in der jeweiligen kaiserlichen Armee ihr ehrenvolles, aber karges Brot verdienten.

Und da wurde denn schließlich das Blut ruhiger und dünner und von den letzten drei Isbaregg brachte es einer nach dem anderen zu hohem militärischen Rang. Kolomans Vater war sogar als Feldzeugmeister gestorben, und seine Frau, eine rötlichblonde Böhmin, konnte es gar nicht fassen, als nach dem großartigen Leichenbegängnis des Exzellenzherrn der kleine, eben zehn Jahre alt gewordene Kolo ihr mit fast wilder Entschlossenheit sagte: „Ich will nicht Offizier werden, ich will reich werden und in die Welt hinaus gehen!" Ein aller Onkel

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aber, der zum Vormund bestellt war, willigte kurz entschlossen ein.