KAPITEL

Es war acht Uhr vorüber, als Kolo die Pension Metropolis wieder betrat. Hätte ihn ein Stubenmädchen oder ein Mitbewohner gesehen, so würde er getan haben, als wenn er eben die Pension hätte verlassen wollen und zurückgekehrt sei, um einen vergessenen Gegenstand zu holen.

Aber der Zufall war ihm günstig. Die Vorhalle war leer, niemand hatte ihn kommen gesehen und unbemerkt konnte er sein Zimmer betreten, wo er sich zu Bett legte, um endlich zu schlafen und die müden Glieder auszuruhen.

Es war aber kaum elf Uhr vormittags, als er von gellenden Schreien, lautem Rufen, dem Knallen zugeschlagener Türen und aufgeregten Gesprächen geweckt wurde. „Herr Geiger ist ermordet worden!" Mit diesem Ruf empfingen ihn die Dienstboten, die Pensionäre und Frau Schlüter, als er in halber Bekleidung sein Zimmer verließ, und schon raunte, wisperte, flüsterte es von Mund zu Mund: „Der Spanier, wo ist der Spanier...?"

Darüber, daß nur der ominöse Spanier der Täter sein konnte, war von allem Anfang an in ganz Wien kein Zweifel. Polizei, Presse und Publikum waren ausnahmsweise einig: nur der Spanier kam in Betracht, nur er konnte den alten Mann ermordet haben. Und Jeremias Finkelstein, der findige Lokalreporter der

„Wiener Morgenpost", brachte über die Erhebungen der Polizei und seine eigenen Nachforschungen einen fulminanten, reich illustrierten Artikel, der die ganze Sachlage erschöpfend darlegte. Zunächst schilderte Finkelstein das vornehme Milieu der Pension Metropolis, flocht rühmende Worte über die tüchtige, gebildete Besitzerin Frau Dr. Schlüter ein - vorher hatte er für sich vom nächsten Herbst ab einen außerordentlich billigen Mittagstischpreis ausbedungen - führte sämtliche Pensionäre, unter ihnen natürlich auch Kolo Isbaregg,

-34-

namentlich an, vergaß die zwei Köchinnen und die Stubenmädchen nicht zu erwähnen, pries in plastischen Worten die Pracht der Zimmereinrichtungen, wobei er Empire mit Barock heftig verwechselte, um dann mit kühnem Schwung und einer saftigen Wetterbetrachtung auf den verhängnisvollen Junitag überzugehen.

„Der angebliche Spanier hatte frühmorgens, vor fünf Uhr noch, mit seinem Handkoffer das Haus verlassen, angeblich, um auf den Semmering zu fahren. Dem Portier, der ihm das Haustor geöffnet hatte, war an ihm durchaus nichts aufgefallen, es sei denn eine gewisse Hast und Nervosität. In der Nacht war der gute Schlaf der Pension Metropolis in keiner Weise gestört worden. Weder Schreie noch verdächtige Fußtritte wurden gehört, obwohl sich die in den besten Wiener Gesellschaftskreisen wohlbekannte Malerin Cleo Holthaus eines außerordentlich leichten Schlafes rühmen kann.

Unter den Pensionären befand sich, wie schon erwähnt, Herr Leo Geiger, der frühere Chef des Bankhauses Geiger & Co., ein alleinstehender Herr von 68 Jahren, der mehrere Millionen besitzen soll und seines gediegenen, ruhigen Charakters halber sich großer Beliebtheit erfreute.

Er bewohnte das Zimmer Nr. 8, mit der Aussicht auf den Schwarzenbergplatz und hatte sich nach angeregter Unterhaltung im Musiksalon gegen Mitternacht zur Ruhe begeben. Er pflegte sonst gegen acht Uhr aufzustehen und dann um die neunte Stunde herum im Frühstückzimmer zu erscheinen. Als es aber an dem verhängnisvollen gestrigen Tag zehn Uhr geworden war, befahl Frau Dr. Schlüter dem aufwartenden Mädchen, leise an die Türe Geigers zu klopfen.

Dies geschah, es erfolgte aber keine Antwort, und so nahm man denn an, daß der alte Herr länger schlafe. Um elf Uhr wurde aber Frau Dr. Schlüter ängstlich und sie klopfte jetzt, vom Stubenmädchen begleitet, selbst energisch und mehrmals hintereinander an. Es kam aber wieder keine Antwort und die

-35-

Dame drückte nun auf die Türklinke, die zu ihrer Verwunderung, da sie wußte, daß Geiger immer hinter sich abzusperren pflegte, nachgab. Frau Dr. Schlüter betrat das Zimmer und drehte das Licht an, da die Jalousien herabgelassen waren.

Sofort fiel ihr der geöffnete Koffer auf, und da das Bett leer zu sein schien, dachte sie, Herr Geiger wäre, ohne jemanden zu verständigen, fortgefahren. Da stieß das Stubenmädchen einen gellenden Schrei aus. Es war an das Bett getreten, hatte die Decke gelüftet und der Anblick, der sich nun den beiden Frauen bot, war so furchtbar, daß sie beide schreiend aus dem Zimmer stürzten und um Hilfe riefen. Unser großer amerikanischer Heldentenor Mister Williams eilte aus seinem Zimmer herbei; Frau Albari, eine bekannte Wiener Schönheit, trat hinzu, auch das übrige Gesinde schloß sich an.