Gemeinsam begaben sich diese Personen nach dem Zimmer Geigers, um endgültig festzustellen: Herr Leo Geiger war tot, aber nicht auf natürliche Weise gestorben, sondern das Opfer eines entsetzlichen Verbrechens geworden. Seine Augen waren aus den Höhlen getreten, die Zunge hing aus dem Munde heraus und das Gesicht des Greises war bläulich gefärbt. Um den Hals aber hing eine grüne Schnur.

Nunmehr hatte Frau Dr. Schlüter sich wieder gefaßt und zeigte eine bewunderungswürdige Haltung. Sie veranlasste alle Anwesenden, das Zimmer zu verlassen, verschloss es und ersuchte Herrn Kolo Isbaregg, der, vom Lärm geweckt, aufgestanden war, sich auf einen Stuhl vor die Türe zu setzen und bis zum Eintreffen der Polizei niemanden das Totenzimmer betreten zu lassen.

Hierauf verständigte sie telephonisch das Polizeikommissariat von dem furchtbaren Geschehnis, das sofort drei Polizisten nach der Pension schickte und seinerseits die Verständigung des Polizeipräsidiums unternahm.

Im Verlauf von wenig mehr als einer Viertelstunde hatte sich

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der Chef der Sicherheitspolizei, Dr. Zwanziger, mit mehreren Beamten, Detektivs, Schutzleuten und dem Polizeiarzt Dr.

Kratochwill eingefunden. Der Arzt konstatierte, daß der Tod des Herrn Geiger vor etwa acht bis neun Stunden eingetreten sei, und zwar infolge gewalttätiger Strangulierung mittelst der noch um den Hals gewundenen Schnur. Die Polizeibeamten aber stellten folgendes fest: Die zum Morde verwendete Schnur war ein Teil der Jalousieschnur, der im Zimmer des Ermordeten, möglicherweise unmittelbar vor der Tat, vielleicht aber auch schon viel früher, mit einem scharfen Messer abgeschnitten worden war. Der große Lederkoffer in einer Fensternische war durch Herausstemmen der beiden soliden Schlosser geöffnet, sein Inhalt durcheinandergeworfen worden. Eine sehr umfangreiche, schwarze Aktentasche lag geöffnet und leer auf dem. Teppich neben dem Koffer. Uhr, zwei Ringe und eine Krawattennadel, alles von ziemlich bedeutendem Wert, lagen unbeachtet auf dem Nachtkästchen neben dem Bett. Der oder die Mörder hatten es also nicht auf diese Schmucksachen, sondern auf einen Teil des Inhaltes des Koffers, vielleicht der Aktentasche, abgesehen gehabt.

Einer der anwesenden Detektivs, dessen Spezialität die Begutachtung von Schlössern und Schlüsseln ist, machte nach sorgfältiger Untersuchung des Türschlosses folgende Feststellungen: Das Schloß der Zimmertüre war vom Korridor aus mittelst eines sogenannten Dietrichs geöffnet worden, was nicht schwer fallen konnte, weil Schloß und Schlüssel ganz primitiver Natur sind.

Der Täter mußte daher nach vollbrachtem Morde den Schlüssel, der wahrscheinlich beim Aufschließen herausgefallen war, aufgehoben und ins Schloß gesteckt haben, was auf Kaltblütigkeit und Ungestörtheit schließen läßt. Weitere positive Beobachtungen waren vorläufig nicht zu machen.

Sämtliche Pensionäre und die Hausgehilfinnen wurden einem Verhöre unterzogen, das ergebnislos blieb. Sie hatten nichts

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gesehen und nichts gehört, und um ihre Meinung befragt, erwiderten sie alle, die einen zögernd, die anderen dezidiert: , Der Spanier...' Natürlich hatte auch Polizeirat Dr. Zwanziger sofort seine volle Aufmerksamkeit diesem mysteriösen spanischen Diplomaten Dr. Diego Alvarez zugewendet und die mit allem Eifer angestellten Recherchen ergaben folgendes: Im Zimmer des Spaniers befand sich buchstäblich nichts, aber auch gar nichts; kein Wäschestück, kein Papierfetzchen. Er hatte also scheinbar alles in seiner Handtasche für die angesagte Fahrt auf den Semmering mitgenommen. Ein Beamter begab sich nun schleunigst in das spanische Botschafterpalais, wo er bei dem Botschafter persönlich Erkundigung einzog. Das Resultat war das erwartete: Es gab dort keinen Diego Alvarez, man kannte auch niemanden dieses Namens und konnte mit Bestimmtheit versichern, daß sich im Dienste des spanischen Auswärtigen Amtes eine solche Person nicht befindet. Daraufhin wurde telephonisch in sämtlichen Hotels und Pensionen des Semmering mit negativem Resultat angefragt und eine ebenfalls telephonisch herbeigeführte Unterredung mit dem Kondukteur des Frühzuges der Südbahn, der inzwischen in Graz seine Reise beendigt hatte, ergab ebenfalls, daß sich im Zuge niemand befunden hatte, auf den die markante Personsbeschreibung des hinkenden, bebrillten, bärtigen Mannes mit Schlapphut und Radmantel gepasst hätte.

Es konnte sonach nicht der geringste Zweifel bestehen, daß der Mörder in der Person des hinkenden Fremden zu suchen sei.

Immerhin nahm unsere Polizei mit anerkennenswerter Umsicht die Erhebungen nach einer ganz anderen Richtung auf.