Wie es der Ermordete, über dessen Charakter man heute wohl anderer Ansicht sein muß als gestern, ermöglicht hat, Millionen ins Ausland zu verschleppen, ist eine Frage, die die Öffentlichkeit noch beschäftigen wird. Für heute begnügen wir uns mit der Feststellung einer Tatsache, die nicht ohne Pikanterie ist und vielleicht sogar eine gewisse Befriedigung erregen wird: Da der Ermordete nach den Angaben seines Rechtsanwaltes nie zu bewegen war, ein Testament zu machen, ist zweifellos seine Nichte, Fräulein Grete Altmann, seine Universalerbin, der auch nach Abzug aller hinterzogenen
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Steuerbeträge ein fürstliches Vermögen in den Schoß gefallen ist. Dies bildet wohl das einzig versöhnliche Moment in der grauenhaften Mordtragödie."
Kolo Isbaregg las diesen Bericht im Kaffeehaus, er lächelte vor sich hin und dachte: „Dieser Reporter ist gar nicht dumm, er hat seine Sache sogar sehr gut gemacht und heute wird ganz Wien sich innerlich über das Glück des armen Mädchens freuen und den Mörder durchaus nicht so verfluchen, wie es vor einigen Stunden noch geschehen ist. Für mich aber scheint die Sache glatt verlaufen zu wollen und ich muß gestehen, daß ich nicht eine Spur von Gewissensbissen empfinde. Sogar mein Schlaf war ein ganz ungestörter. Nur die arme Schlüter tut mir recht leid, sie wird schwer zu arbeiten haben, um ihre Pension wieder in die Höhe zu bringen."
Tatsächlich ergriffen die Gäste der Pension Metropolis förmlich die Flucht, bis nach Verlauf von einigen Tagen Frau Schlüter es für das beste fand, auf die Dauer des Sommers zu sperren und den wenigen Pensionären, die geblieben waren, unter dem Vorwand dringender Renovierungsarbeiten das Fortziehen nahezulegen.
Kolo Isbaregg, der sich unbeobachtet und absolut unverdächtigt wusste, konnte das kleine Paket mit den Tausendkronenscheinen anstandslos gegen Vorweisung seiner Legitimationspapiere bei der Post beheben, dann setzte er sich in den Schnellzug und fuhr nach dem Salzkammergut, um dort die Sommermonate zu verbringen und neue Lebenspläne zu schmieden.
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II. TEIL
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I. KAPITEL
Das ganze Konzerthausschwamm in Licht, Musik und Erregung. Die erste öffentliche Redoute nach langen, langen Jahren versammelt ganz Wien; unterdrückter Lebensdrang und die qualvolle Ungewissheit über die eigene Existenz, die Zukunft, die Unsicherheit der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse, die sich in furchtbaren Zusammenbrüchen, in gewaltsamen Vermögensverschiebungen und seltsamen Umgruppierungen der sozialen Schichtung äußerten, trieb die Menschen zu lärmenden Vergnügungen, zu allem, was unmittelbar auf die Sinne wirkt.
Die exorbitant hohen Eintrittspreise für diese erste große Faschingsredoute hatten nicht verhindern können, daß alle Klassen an ihr teilnahmen und die Mischung barocker und krauser war, als man es jemals vor dem Jahre 1914 erlebt hatte.
Die Barone, Grafen und Fürsten von ehemals, denen das Gesetz den Adel genommen, flanierten im Frackanzug und Zylinderhut neben Börsenschiebern, Kommis, verdächtigen Gestalten aus dem Ghetto, die durch jahrelangen Schleichhandel Millionen verdient hatten, hier streifte ein Herr, dessen Geschlecht den Habsburgern verwandt und ebenbürtig gewesen, einen Zuhälter, da drängte sich ein breiter Bauernklachel aus Oberhollabrunn an maskierten Frauen vorbei und dachte in diesem Augenblick vielleicht voll Sorge, ob nicht Einbrecher seine hinter dem Schweinestall vergrabenen, mit Gold- und Silbergeld gefüllten Kisten rauben konnten.
Äußerlich weniger scharf, innerlich aber um so greller kamen die sozialen Unterschiede bei den Frauen zum Ausdruck.
Grisetten, Straßenmädchen, berühmte Bühnenkünstlerinnen verbargen sich hinter den Larven in kostbaren Toiletten ebenso wie die wirklich vornehme Dame oder die Frau des Kleinbürgers, die ein Monatseinkommen des Mannes aufwendet, um endlich einmal die ersehnte Redoute
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mitzuerleben, und die Lockerung aller überlieferten Sittlichkeitsbegriffe, das Schwinden der Autorität im eigenen Haus, der Bruch mit traditionellen Anschauungen brachten es mit sich, daß auch junge Mädchen aus guten Häusern, Studentinnen und sogar sogenannte Backfische mit oder ohne Willen und Wissen der Eltern die große Friedensredoute im Konzerthaus mitmachten.
Um alle aber, um die Vornehmen und die Parvenus, die Untergehenden und eben Emporgetauchten, die Jungen und Alten, die Frauen und Männer von Klasse und Rasse und die ohne Vergangenheit und Erziehung, schwebte eine schwüle Atmosphäre voll wilder, brutaler Erotik.
Wien befand sich seit Jahr und Tag, seitdem der wirtschaftliche Niedergang offenkundig und unaufhaltsam geworden, in jenem sinnlichen Taumel, den man oft bei Lungenschwindsüchtigen, deren Lebenstage gezählt sind, beobachten kann.
Aus allen Zukunfts- und Gegenwartssorgen flüchtete man zu Gott Eros, und die öffentlichen Sittenrichter, die Leitartikler, die Prediger auf der Kanzel fanden taube Ohren, erweckten nur ein Echo hysterischen Gelächters, wenn sie auf die Folgen hinwiesen, die der Ehebruch in Permanenz, die Sittenlosigkeit der Heranwachsenden, das Laster in seinen perversen Formen für Stadt und Land haben müßten.
Alles wollte leben, das Heute genießen, da man nicht wusste, welche Schrecken das Morgen bringen würde, ohne Besinnen jede Stunde und jede Möglichkeit auskosten, weil man immer darauf gefaßt sein mußte, vor neuen Umwälzungen zu stehen.
Die immer toller werdende Teuerung trug das Ihrige dazu bei, alle Begriffe auf den Kopf zu stellen und das Verschwenden wirklich zur Tugend zu machen. Warum nicht heute eine Flasche Champagner zu vierhundert Kronen trinken, wenn sie morgen schon vielleicht achthundert kostet, warum nicht der Geliebten ein Blumenarrangement für tausend Kronen kaufen,
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da man das nächste mal das Doppelte würde zahlen müssen, warum nicht die Hälfte des Vermögens in Schmuck anlegen und so vielleicht vor dem Fiskus retten, der alles an Hab und Gut an sich zu reißen sucht, um wenigstens die Zinseszinsen der Staatsschulden zahlen zu können.
Geld, Moral, bürgerlicher Ehrbegriff - alles schritt mit Galoppsprüngen der völligen Entwertung entgegen und das einzig Bestehende, Positive und Begehrte waren Speise, Trank und Liebe, die man erraffte und kaufte, was sie auch kosten mochten...
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II. KAPITEL
Kolo Isbaregg lehnte an einer Säule, umbrandet von Fräcken, Zylinder hüten, Monokeln, Spazierstöcken, weißen, feuchten Schultern, üppigen Büsten, rauschenden Röcken, funkelnden Augen, aus den Spitzen- und Seidenlärvchen unheimlich herausleuchtend. Ein leises Gefühl von Enttäuschung und Überdruss durchrieselte ihn. Was war diese Redoute, der er mit einiger Spannung entgegengesehen hatte? Eigentlich nichts anderes doch als derselbe erotische Krampf, wie er sich sonst in kleinerem Format in tausend Salons, auf dem Korso, bei den Tees und in den vornehmen Restaurants abspielte. Eine Ansammlung gieriger Männer, die vergebens dem Weib ihrer Träume nachliefen und sich nach jedem Abenteuer betrogen fühlten, und hysterischer Frauen, die vergebens der großen erotischen Sensation harrten, oder kalter Hetären, die sich für Geld oder für Kleider und Schmuck kaufen lassen wollten. Und ganz unwillkürlich schloss Kolo Isbaregg die Augen und träumte Vergangenheit, sah die kanadischen endlosen Wälder vor sich, die ungeheure Fabriksstadt, in der er mit hingebungsvoller Lust und brennendem Ehrgeiz gearbeitet hatte.
Wie ganz anders war seine Welt damals gewesen!
Immer hatte die Frau eine gewisse Rolle in ihr gespielt, aber doch eine untergeordnete Rolle.
Führer werden aus eigener Kraft.
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