11. 1912), 228
Dich wundert nicht des Sturmes Wucht,
du hast ihn wachsen sehn; –
die Bäume flüchten. Ihre Flucht
schafft schreitende Alleen.
Da weißt du, der, vor dem sie fliehn,
ist der, zu dem du gehst,
und deine Sinne singen ihn,
wenn du am Fenster stehst.
Des Sommers Wochen standen still,
es stieg der Bäume Blut;
jetzt fühlst du, daß es fallen will
in den, der alles tut.
Du glaubtest schon erkannt die Kraft,
als du die Frucht erfaßt,
jetzt wird sie wieder rätselhaft,
und du bist wieder Gast.
Der Sommer war so wie dein Haus,
drin weißt du alles stehn –
jetzt mußt du in dein Herz hinaus
wie in die Ebene gehn.
Die große Einsamkeit beginnt,
die Tage werden taub,
aus deinen Sinnen nimmt der Wind
die Welt wie welkes Laub.
Durch ihre leeren Zweige sieht
der Himmel, den du hast;
sei Erde jetzt und Abendlied
und Land, darauf er paßt.
Demütig sei jetzt wie ein Ding,
zu Wirklichkeit gereift, –
daß Der, von dem die Kunde ging,
dich fühlt, wenn er dich greift.
Werke I, 305f.
Liebe Lou,
endlich, endlich ein großer Sturm; es war eine so ungewöhnliche Stille in diesem Herbst. Die Blätter saßen an den Ästen obwohl ein Nichts sie hielt; es fehlte ihnen der Entschluß abzufallen. Und man war beeinflußt davon und ging selber so vorsichtig zwischen allen diesen Buchen- und Eichenbüschen herum, um nur ja keinen Wind zu machen. Heute aber war Sturm, ganz großer Sturm, und in einer halben Stunde war alles leer. Und nun sieht man nach allen Seiten, sieht den hellen kalten See, sieht weiße Landsitze und kleine rothe, rothe Holzhäuser; alles ist sich näher, wie für den Winter zusammengestellt, aber die Welt rund herum ist groß.
Und der Sturm!
Ich habe auf meinem einsamen Berg ein Gedicht geschrieben, es wurde so aus mir herausgerissen: (Das erste seit lange, lange.) Das gebe ich Dir nun, liebe Lou, zum Dank für Deinen guten Brief. Der hat mich so im Innersten gestützt. Du weißt ja aus meinem anderen Brief, wie ich nun handeln will. Ja, und auf diesem Willen sitze ich nun und halte mich an seiner Mähne und hänge an seinem Halse und mache gewiß keinen ritterlichen Eindruck. Aber, was die Hauptsache ist: wir kommen vorwärts dabei. Und sollte ich doch wieder hinunterfallen (o alte Reitschulerinnerung) so habe ich mir vorgenommen, diesem Willen nachzulaufen, solange der Athem hält. – So steht es nun. Und es soll eines nach dem anderen geschehen. Ob es dann, gegen den Frühling hin, Göttingen oder Zürich wird, wird sich später entscheiden müssen. Daß Göttingen, rein sachlich genommen, möglich ist, daran halte ich mich vor der Hand. Was Du mir zu bedenken giebst, ist lange bedacht. Liebe Lou, Du bist meiner Feiertage Feiertag, und ich gedenke ja Werktagjahre zu haben. Freilich jetzt sehne ich mich nach einem Wiedersehen, jetzt fehlt es mir überall: alle meine Gedanken sind ohne Anfangsbuchstaben. Aber es wird ja kommen und dann wird es mir wirken, und ich traue mir zu, ganz stille zu sein, irgend ein Mensch zu sein am Rande von Göttingen, der von Loufried nicht mehr zu wissen behauptet, als daß es dort eine Unmenge Äpfel giebt und einen weißen neugierigen, ungemein sachverständigen Hund.
Andreas-Salomé (3. 11. 1904), 191f.
Abend in Skåne
Der Park ist hoch. Und wie aus einem Haus
tret ich aus seiner Dämmerung heraus
in Ebene und Abend. In den Wind,
denselben Wind, den auch die Wolken fühlen,
die hellen Flüsse und die Flügelmühlen,
die langsam mahlend stehn am Himmelsrand.
Jetzt bin auch ich ein Ding in seiner Hand,
das kleinste unter diesen Himmeln. – Schau:
Ist das Ein Himmel?:
Selig lichtes Blau,
in das sich immer reinere Wolken drängen,
Und drunter alle Weiß in Übergängen,
und drüber jenes dünne, große Grau,
warmwallend wie auf roter Untermalung,
und über allem diese stille Strahlung
sinkender Sonne.
Wunderlicher Bau,
in sich bewegt und von sich selbst gehalten,
Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten
und Hochgebirge vor den ersten Sternen
und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,
wie sie vielleicht nur Vögel kennen …
Werke I, 404f.
Aus einer Sturmnacht
Acht Blätter mit einem Titelblatt
Titelblatt
Die Nacht, vom wachsenden Sturme bewegt,
wie wird sie auf einmal weit –,
als bliebe sie sonst zusammengelegt
in die kleinlichen Falten der Zeit.
Wo die Sterne ihr wehren, dort endet sie nicht
und beginnt nicht mitten im Wald
und nicht an meinem Angesicht
und nicht mit deiner Gestalt.
Die Lampen stammeln und wissen nicht:
lügen wir Licht?
Ist die Nacht die einzige Wirklichkeit
seit Jahrtausenden …
<1>
In solchen Nächten kannst du in den Gassen
Zukünftigen begegnen, schmalen blassen
Gesichtern, die dich nicht erkennen
und dich schweigend vorüberlassen.
Aber wenn sie zu reden begännen,
wärst du ein Langevergangener
wie du da stehst,
langeverwest.
Doch sie bleiben im Schweigen wie Tote,
obwohl sie die Kommenden sind.
Zukunft beginnt noch nicht.
Sie halten nur ihr Gesicht in die Zeit
und können, wie unter Wasser, nicht schauen;
und ertragen sie's doch eine Weile,
sehn sie wie unter den Wellen: die Eile
von Fischen und das Tauchen von Tauen.
<2>
In solchen Nächten gehn die Gefängnisse auf.
Und durch die bösen Träume der Wärter
gehn mit leisem Gelächter
die Verächter ihrer Gewalt.
Wald! Sie kommen zu dir, um in dir zu schlafen,
mit ihren langen Strafen behangen.
Wald!
<3>
In solchen Nächten ist auf einmal Feuer
in einer Oper. Wie ein Ungeheuer
beginnt der Riesenraum mit seinen Rängen
Tausende, die sich in ihm drängen,
zu kauen.
Männer und Frauen
staun sich in den Gängen,
und wie sie alle aneinander hängen,
bricht das Gemäuer, und es reißt sie mit.
Und niemand weiß mehr wer ganz unten litt;
während ihm einer schon das Herz zertritt,
sind seine Ohren noch ganz voll von Klängen,
die dazu hingehn …
<4>
In solchen Nächten, wie vor vielen Tagen,
fangen die Herzen in den Sarkophagen
vergangner Fürsten wieder an zu gehn;
und so gewaltig drängt ihr Wiederschlagen
gegen die Kapseln, welche widerstehn,
daß sie die goldnen Schalen weitertragen
durch Dunkel und Damaste, die zerfallen.
Schwarz schwankt der Dom mit all seinen Hallen.
Die Glocken, die sich in die Türme krallen,
hängen wie Vögel, bebend stehn die Türen,
und an den Trägern zittert jedes Glied:
als trügen seinen gründenden Granit
blinde Schildkröten, die sich rühren.
<5>
In solchen Nächten wissen die Unheilbaren:
wir waren …
Und sie denken unter den Kranken
einen einfachen guten Gedanken
weiter, dort, wo er abbrach.
Doch von den Söhnen, die sie gelassen,
geht der Jüngste vielleicht in den einsamsten Gassen;
denn gerade diese Nächte
sind ihm als ob er zum ersten Mal dächte:
lange lag es über ihm bleiern,
aber jetzt wird sich alles entschleiern –,
und: daß er feiern wird,
fühlt er …
<6>
In solchen Nächten sind alle Städte gleich,
alle beflaggt.
Und an den Fahnen vom Sturm gepackt
und wie an Haaren hinausgerissen
in irgend ein Land mit ungewissen
Umrissen und Flüssen.
In allen Gärten ist dann ein Teich,
an jedem Teiche dasselbe Haus,
in jedem Haus dasselbe Licht;
und alle Menschen sehn ähnlich aus
und halten die Hände vorm Gesicht.
<7>
In solchen Nächten werden die Sterbenden klar,
greifen sich leise ins wachsende Haar,
dessen Halme aus ihres Schädels Schwäche
in diesen langen Tagen treiben,
als wollten sie über der Oberfläche
des Todes bleiben.
Ihre Gebärde geht durch das Haus
als wenn überall Spiegel hingen;
und sie geben – mit diesem Graben
mit ihre Haaren – Kräfte aus,
die sie in Jahren gesammelt haben,
welche vergingen.
<8>
In solchen Nächten wächst mein Schwesterlein,
das vor mir war und vor mir starb, ganz klein.
Viel solche Nächte waren schon seither:
Sie muß schon schön sein. Bald wird irgendwer
sie frein.
Werke I, 460-464
Nun erst ist die große Birke, die man von den Fenstern Furuborgs aus vor der Seeferne hängen sah, leer; nun erst sind alle Wege ganz zugedeckt mit Blättern, nun erst sieht man weithin das weiße Haus. Braun ist alles, rötlichbraun und braun in braun. Zwischendurch sieht man blaßgrüne Wiesenstreifen, und die Föhren und Tannen haben ein dunkles dichtes Winterkleid-Grün. Nur dann und wann wird eine ganz goldene Birke hoch über alles hinaufgehoben, wie ein Monstranz, in den Sonnenuntergang hinein …
Briefe 1902-1906 (Clara Rilke, 28. 10. 1904), 225
Herbst
Oh hoher Baum des Schauns, der sich entlaubt:
nun heißts gewachsen sein dem Übermaße
von Himmel, das durch seine Äste bricht.
Erfüllt vom Sommer, schien er tief und dicht,
uns beinah denkend, ein vertrautes Haupt.
Nun wird sein ganzes Innere zur Straße
des Himmels. Und der Himmel kennt uns nicht.
Ein Äußerstes: daß wir wie Vogelflug
uns werfen durch das neue Aufgetane,
das uns verleugnet mit dem Recht des Raums,
der nur mit Welten umgeht.
1 comment