Jede Verfolgung erwies sich sofort als nutzlos. In wenigen Minuten hatte sich die merkwürdige Masse den Blicken entzogen. Selbstverständlich machten sich über die Natur dieser Erscheinungen bald die verschiedensten Ansichten geltend. Bisher beruhte aber keine der geäußerten Vermutungen auf sicherem Grunde, und auch die Seeleute waren sich darüber ebenso unklar wie alle anderen.
Anfänglich glaubten Seeleute und Fischer, es handle sich hier um ein Seesäugetier aus dem Geschlechte der Cetaceer (Waltiere). Bekanntlich tauchen diese Tiere mit einer gewissen Regelmäßigkeit, kommen dann nach mehrminütigem Verweilen unter Wasser wieder an die Oberfläche und werfen durch ihre Spritzlöcher mit Luftblasen gemengte Wassersäulen in die Höhe. Bis jetzt hatte aber jenes Tier – wenn es ein solches war – noch niemals »sondiert«, wie die Walfänger sich ausdrücken, noch niemals sich durch Untertauchen zu schützen gesucht und noch niemals hatte man etwas von geräuschvollem Atmen gehört.
Gehörte es danach also nicht der Klasse der Seesäugetiere an, so mußte man es wohl für ein unbekanntes Ungeheuer ansehen, das vielleicht den Tiefen der Ozeane entstammte, wie die, die man aus den sagenhaften Schilderungen früherer Zeiten kennt. Sollte man es also den Kalmars, den Kraken, den Leviathans oder den berüchtigten Seeschlangen zuzählen, vor deren Angriffen man sich zu hüten allen Grund hatte?
Seitdem dieses Ungeheuer, mochte es sein, welches es wollte, in den Küstengewässern Neuenglands erschienen war, wagten sich jedenfalls die kleineren Fahrzeuge und die Fischerboote nicht mehr weit aufs Meer hinaus. Sobald sein Auftauchen ruchbar wurde, beeilten sie sich, den nächsten Hafen zu erreichen. Das verlangte unbedingt die gewöhnlichste Klugheit, denn für den Fall, daß jenes Tier von angriffslustigem Charakter war, erschien es doch besser, sich einem Überfalle durch dieses nicht erst auszusetzen.
Die Segelschiffe der langen Fahrt und die großen Dampfer hatten von dem Ungeheuer, diesem Walfisch oder anderen Meerbewohner, freilich nichts zu fürchten. Deren Mannschaften hatten es auch mehrmals in der Entfernung von einigen Meilen gesehen. Sobald sie ihm aber näher zu kommen suchten, entfloh es so eilig, daß es unmöglich war, es zu erreichen. Eines Tages war sogar ein kleiner Kreuzer des Staates von Boston ausgelaufen, nicht um die unbekannte Masse zu verfolgen, sondern um ihr einige Geschosse nachzusenden. Binnen wenigen Augenblicken hatte sich das – vermutliche – Tier jedoch über die Tragweite der Geschütze hinaus entfernt, und auch dieser Versuch erwies sich also als vergeblich. Übrigens schien es mehr und mehr, daß es gar nicht die Absicht habe, die Fischerboote zu überfallen.
Jetzt unterbrach ich mich im Lesen und sagte, an Herrn Ward gewendet: »Alles in allem hat man sich über das Ungeheuer bisher ja noch nicht zu beklagen gehabt. Den großen Schiffen weicht es aus und die kleinen läßt es ungeschoren. Da kann doch unter den Strandbewohnern keine so besondere Aufregung herrschen.
– Und doch ist das der Fall, Strock; dieser Bericht liefert ja den Beweis dafür.
– So scheint es, Herr Ward; das Tier scheint aber keineswegs gefährlich zu sein. Übrigens wird ja eins oder das andere eintreffen: entweder verschwindet es eines Tages aus den genannten Gegenden, oder es wird schließlich eingefangen und paradiert dann im naturhistorischen Museum Washingtons.
– Und wenn es doch kein Seeungeheuer wäre… warf Herr Ward ein.
– Was sollte es denn sonst sein? antwortete ich, überrascht durch diesen Einwand.
– Lesen Sie nur weiter!« sagte Herr Ward.
Das tat ich denn auch und unterrichtete mich über die zweite Hälfte der Mitteilung, in der mein Chef einzelne Stellen mit Rotstift unterstrichen hatte.
Eine Zeitlang hatte niemand in Zweifel gezogen, daß hier ein Seeungeheuer sein Wesen triebe, und wenn man dieses hartnäckig verfolgte, mußte es am Ende doch gelingen, die Küstengewässer von ihm zu befreien. Bald kam es aber zu einem Umschlag der bisher verbreiteten Anschauung. Einzelne, etwas nachdenklichere Leute fragten sich, ob es, statt eines tierischen Wesens, nicht vielleicht ein mit Maschinen versehenes Fahrzeug wäre, das Kreuz-und Querfahrten in den Gewässern Neuenglands unternahm.
Die betreffenden Maschinen müßten dann freilich einen sehr hohen Grad der Vervollkommnung erreicht haben. Vielleicht beabsichtigte der Erfinder, ehe er seine Erfindung veröffentlichte, die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen und das Seevolk sogar etwas in Schrecken zu setzen. Eine solche Sicherheit der Lenkung, eine solche Schnelligkeit der Bewegung, und dank dem außerordentlichen Vermögen der Ortsveränderung, eine solche Leichtigkeit, jeder Verfolgung zu entgehen… das war gewiß geeignet, die Neugier anzustacheln.
Jener Zeit waren in der Kunst des mechanischen Schiffsantriebes schon die erstaunlichsten Fortschritte gemacht worden. Die transatlantischen Dampfer entwickelten eine solche Geschwindigkeit, daß schon fünf Tage genügten, die Entfernung zwischen der Alten und der Neuen Welt zu überwinden.
Und noch hatten die Ingenieure ihr letztes Wort nicht gesprochen. Auch die Kriegsmarine war nicht im Rückstande geblieben. Die Kreuzer, die Torpedoboote und die Torpedojäger konnten mit den schnellsten Paketbooten des Atlantischen und des Großen Ozeans und des Indischen Meeres in Wettbewerb treten.
Handelte es sich hier um ein Fahrzeug von ganz neuer Bauart, so war es leider noch nicht möglich gewesen, seine äußere Form zu erkennen. Was aber den Motor betraf, über den es verfügte, so mußte diesem eine Kraft innewohnen, an die auch die bisherigen vollkommensten nicht heranreichten. Ob das Fahrzeug seinen hervorragenden dynamischen Wert dem Dampfe oder der Elektrizität verdankte, das war nicht zu entscheiden. Sicher war nur, daß es, infolge des Fehlens jedes Segelwerkes, den Wind nicht benutzte, und da es keinen Schornstein hatte, auch keine der gewöhnlichen Dampfmaschinen enthalten konnte.
Bei dieser Stelle hatte ich meine Lektüre noch einmal unterbrochen und überdachte erst ein wenig, was ich gelesen hatte.
»Woran denken Sie, Strock? fragte mein Vorgesetzter.
– Daran, Herr Direktor, daß der Motor, der das in Frage stehende Fahrzeug treibt, ebenso kräftig und unbekannt ist wie der des phantastischen Automobils, von dem man seit dem Match des American Club nichts mehr gehört hat.

Die Gewässer von Neuengland wurden von einer Erscheinung beunruhigt… (S. 60.)
– Ah, das ist Ihnen dabei eingefallen, Strock?
– Jawohl, Herr Ward!«
Daraufhin drängten sich uns nun von selbst folgende Erwägungen auf:
War der geheimnisvolle Chauffeur verschwunden und sein Apparat mit ihm im Michigansee versunken, so mußte man doch, koste es, was es wolle, hinter das Geheimnis des nicht weniger geheimnisvollen Seefahrers zu kommen suchen und wünschen, daß es nicht in der Tiefe des Meeres verloren ginge, ehe es entschleiert wäre. Liegt es denn nicht im Interesse jedes Erfinders, seine Erfindung ans Licht des Tages zu bringen? Würde nicht Amerika oder jede andere Staat einem solchen jeden Preis bezahlen, den er verlangte?
Leider hatte der Erfinder des Kraftwagens sein Inkognito immer streng bewahrt, und es war zu befürchten, daß der des schwimmenden Apparates dasselbe tun werde.
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