Daß dieser Stoff in einer höchst abstrakten Form erscheint, kann seinen Ursprung aus der Außenwelt nur oberflächlich verdecken. Um diese Formen und Verhältnisse in ihrer Reinheit untersuchen zu können, muß man sie aber vollständig von ihrem Inhalt trennen, diesen als gleichgültig beiseite setzen; so erhält man die Punkte ohne Dimensionen, die Linien ohne Dicke und Breite, die a und b und x und y, die Konstanten und die Variablen, und kommt dann ganz zuletzt erst auf die eignen freien Schöpfungen und Imaginationen des Verstandes, nämlich die imaginären Größen. Auch die scheinbare Ableitung mathematischer Größen aus einander beweist nicht ihren apriorischen Ursprung, sondern nur ihren rationellen Zusammenhang. Ehe man auf die Vorstellung kam, die Form eines Zylinders aus der Drehung eines Rechtecks um eine seiner Seiten abzuleiten, muß man eine Anzahl wirklicher Rechtecke und Zylinder, wenn auch in noch so unvollkommner Form, untersucht haben. Wie alle andern Wissenschaften ist die Mathematik aus den Bedürfnissen der Menschen hervorgegangen: aus der Messung von Land und Gefäßinhalt, aus Zeitrechnung und Mechanik. Aber wie in allen Gebieten des Denkens werden auf einer gewissen Entwicklungsstufe die aus der wirklichen Welt abstrahierten Gesetze von der wirklichen Welt getrennt, ihr als etwas Selbständiges gegenübergestellt, als von außen kommende Gesetze, wonach die Welt sich zu richten hat. So ist es in Gesellschaft und Staat hergegangen, so und nicht anders wird die reine Mathematik nachher auf die Welt angewandt, obwohl sie eben dieser Welt entlehnt ist und nur einen Teil ihrer Zusammensetzungsformen darstellt – und grade nur deswegen überhaupt anwendbar ist.[36]

Wie aber Herr Dühring sich einbildet, aus den mathematischen Axiomen, die

»auch nach der rein logischen Vorstellung einer Begründung weder fähig noch bedürftig sind«,

ohne irgendwelche erfahrungsmäßige Zutat die ganze reine Mathematik ableiten und diese dann auf die Welt anwenden zu können, ebenso bildet er sich ein, zuerst die Grundgestalten des Seins, die einfachen Bestandteile alles Wissens, die Axiome der Philosophie, aus dem Kopf erzeugen, aus ihnen die ganze Philosophie oder Weltschematik ableiten und diese seine Verfassung der Natur und Menschenwelt Allerhöchst oktroyieren zu können. Leider besteht die Natur gar nicht und die Menschenwelt nur zum allergeringsten Teil aus den Manteuffelschen Preußen von 1850.

Die mathematischen Axiome sind die Ausdrücke des höchst dürftigen Gedankeninhalts, den die Mathematik der Logik entlehnen muß. Sie lassen sich auf zwei zurückführen:

1. Das Ganze ist größer als der Teil. Dieser Satz ist eine reine Tautologie, da die quantitativ gefaßte Vorstellung: Teil sich von vornherein in bestimmter Weise auf die Vorstellung: Ganzes bezieht, nämlich so, daß »Teil« ohne weiteres besagt, daß das quantitative »Ganze« aus mehreren quantitativen »Teilen« besteht. Indem das sogenannte Axiom dies ausdrücklich konstatiert, sind wir keinen Schritt weiter. Man kann diese Tautologie sogar gewissermaßen beweisen, wenn man sagt: ein Ganzes ist das, was aus mehreren Teilen besteht; ein Teil ist das, von dem mehrere ein Ganzes ausmachen, folglich ist der Teil kleiner als das Ganze – wo die Öde der Wiederholung die öde des Inhalts noch stärker hervortreten läßt.

2. Wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, so sind sie untereinander gleich. Dieser Satz ist, wie schon Hegel nachgewiesen hat, ein Schluß, für dessen Richtigkeit die Logik einsteht, der also bewiesen ist, wenn auch außerhalb der reinen Mathematik. Die übrigen Axiome über Gleichheit und Ungleichheit sind bloße logische Erweiterungen dieses Schlusses.

Diese magern Sätze locken weder in der Mathematik noch sonstwo einen Hund vom Ofen. Um weiterzukommen, müssen wir reale Verhältnisse hineinziehn, Verhältnisse und Raumformen, die von wirklichen Körpern hergenommen sind. Die Vorstellungen von Linien, Flächen, Winkeln, von Vielecken, Würfeln, Kugeln usw. sind alle der Wirklichkeit entlehnt, und es gehört ein gut Stück naiver Ideologie dazu, den Mathematikern zu glauben, die erste Linie sei durch Bewegung eines Punktes im Raum entstanden, die erste Fläche durch Bewegung einer Linie, der erste Körper durch[37] Bewegung einer Fläche usw. Schon die Sprache rebelliert dagegen. Eine mathematische Figur von drei Dimensionen heißt ein Körper, corpus solidum, also im Lateinischen sogar ein handgreiflicher Körper, führt also einen Namen, der keineswegs der freien Imagination des Verstandes, sondern der handfesten Realität entlehnt ist.

Aber wozu all diese Weitläufigkeiten? Nachdem Herr Dühring auf Seite 42 und 43 die Unabhängigkeit der reinen Mathematik von der Erfahrungswelt, ihre Apriorität, ihre Beschäftigung mit den eignen freien Schöpfungen und Imaginationen des Verstandes, begeistert besungen, sagt er auf Seite 63:

»Es wird nämlich leicht übersehn, daß jene mathematischen Elemente« (»Zahl, Größe, Zeit, Raum und geometrische Bewegung«) »nur ihrer Form nach ideell sind,... die absoluten Größen sind daher etwas durchaus Empirisches, gleichviel welcher Gattung sie angehören«,... aber »die mathematischen Schemata sind einer von der Erfahrung abgesonderten und dennoch zureichenden Charakteristik fähig«,

welches letztere mehr oder weniger von jeder Abstraktion gilt, aber keineswegs beweist, daß sie nicht aus der Wirklichkeit abstrahiert ist. In der Weltschematik ist die reine Mathematik aus dem reinen Denken entsprungen – in der Naturphilosophie ist sie etwas durchaus Empirisches, aus der Außenwelt Genommenes und dann Abgesondertes. Wem sollen wir nun glauben?[38]

 

IV. Weltschematik

»Das allumfassende Sein ist einzig. In seiner Selbstgenügsamkeit hat es nichts neben oder über sich. Ihm ein zweites Sein zugesellen, hieße es zu dem machen, was es nicht ist, nämlich zu dem Teil oder Bestandstück eines umfangreicheren Ganzen. Indem wir unsern einheitlichen Gedanken gleichsam als Rahmen ausspannen, kann nichts, was in diese Gedankeneinheit eingehn muß, eine Doppelheit an sich behalten. Es kann sich aber dieser Gedankeneinheit auch nichts entziehn...