Marx war ein gründlicher Mathematiker, aber die Naturwissenschaften konnten wir nur stückweise, sprungweise, sporadisch verfolgen. Als ich daher durch Rückzug aus dem kaufmännischen Geschäft und Umzug nach London die Zeit dazu gewann, machte ich, soweit es mir möglich, eine vollständige[10] mathematische und naturwissenschaftliche »Mauserung«, wie Liebig es nennt, durch, und verwandte den besten Teil von acht Jahren darauf. Ich war grade mitten in diesem Mauserungsprozeß begriffen, als ich in den Fall kam, mich mit Herrn Dührings sogenannter Naturphilosophie zu befassen. Wenn ich also da manchmal den richtigen technischen Ausdruck nicht finde und mich überhaupt mit ziemlicher Schwerfälligkeit auf dem Gebiet der theoretischen Naturwissenschaft bewege, so ist das nur zu natürlich. Andrerseits hat mich aber das Bewußtsein meiner noch nicht überwundnen Unsicherheit vorsichtig gemacht; wirkliche Verstöße gegen die damals bekannten Tatsachen und unrichtige Darstellung der damals anerkannten Theorien wird man mir nicht nachweisen können. In dieser Beziehung hat sich nur ein verkannter großer Mathematiker bei Marx brieflich beklagt, ich hätte die √-1 frevelhaft an ihrer Ehre angegriffen.
Es handelte sich bei dieser meiner Rekapitulation der Mathematik und der Naturwissenschaften selbstredend darum, mich auch im einzelnen zu überzeugen – woran im allgemeinen kein Zweifel für mich war –, daß in der Natur dieselben dialektischen Bewegungsgesetze im Gewirr der zahllosen Veränderungen sich durchsetzen, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschen; dieselben Gesetze, die, ebenfalls in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Denkens den durchlaufenden Faden bildend, allmählich den denkenden Menschen zum Bewußtsein kommen; die zuerst von Hegel in umfassender Weise, aber in mystifizierter Form entwickelt worden, und die aus dieser mystischen Form herauszuschälen und in ihrer ganzen Einfachheit und Allgemeingültigkeit klar zur Bewußtheit zu bringen, eine unsrer Bestrebungen war. Es verstand sich von selbst, daß die alte Naturphilosophie – soviel wirklich Gutes und soviel fruchtbare Keime sie enthielt1 – uns nicht genügen[11] konnte. Wie in dieser Schrift näher entwickelt, fehlte sie, namentlich in der Hegelschen Form, darin, daß sie der Natur keine Entwicklung in der Zeit zuerkannte, kein »Nacheinander«, sondern nur ein »Nebeneinander«. Dies war einerseits im Hegelschen System selbst begründet, das nur dem »Geist« eine geschichtliche Fortentwicklung zuschrieb, andrerseits aber auch im damaligen Gesamtstand der Naturwissenschaften. So fiel Hegel hier weit hinter Kant zurück, dessen Nebulartheorie bereits die Entstehung, und dessen Entdeckung der Hemmung der Erdrotation durch die Meeresflutwelle auch schon den Untergang des Sonnensystems proklamiert hatte. Und endlich konnte es sich für mich nicht darum handeln, die dialektischen Gesetze in die Natur hineinzukonstruieren, sondern sie in ihr aufzufinden und aus ihr zu entwickeln.
Dies im Zusammenhang und auf jedem einzelnen Gebiet zu tun, ist aber eine Riesenarbeit. Nicht nur ist das zu beherrschende Gebiet fast unermeßlich, es ist auch auf diesem gesamten Gebiet die Naturwissenschaft selbst in einem so gewaltsamen Umwälzungsprozeß begriffen, daß auch derjenige kaum folgen kann, dem seine ganze freie Zeit hierfür zur Verfügung steht. Seit dem Tode von Karl Marx ist meine Zeit aber durch dringendere Pflichten mit Beschlag belegt worden, und da mußte ich meine Arbeit unterbrechen. Ich muß mich vorderhand mit den in der vorliegenden Schrift gegebnen Andeutungen begnügen und abwarten, ob sich später einmal Gelegenheit findet, die gewonnenen Resultate zu sammeln und herauszugeben,[12] vielleicht zusammen mit den hinterlassenen höchst wichtigen mathematischen Manuskripten von Marx.
Vielleicht aber macht der Fortschritt der theoretischen Naturwissenschaft meine Arbeit größtenteils oder ganz überflüssig. Denn die Revolution, die der theoretischen Naturwissenschaft aufgezwungen wird durch die bloße Notwendigkeit, die sich massenhaft häufenden, rein empirischen Entdeckungen zu ordnen, ist der Art, daß sie den dialektischen Charakter der Naturvorgänge mehr und mehr auch dem widerstrebendsten Empiriker zum Bewußtsein bringen muß. Die alten starren Gegensätze, die scharfen, unüberschreitbaren Grenzlinien verschwinden mehr und mehr. Seit der Flüssigmachung auch der letzten »echten« Gase, seit dem Nachweis, daß ein Körper in einen Zustand versetzt werden kann, worin tropfbare und Gasform ununterscheidbar sind, haben die Aggregatzustände den letzten Rest ihres frühern absoluten Charakters verloren. Mit dem Satz der kinetischen Gastheorie, daß in vollkommnen Gasen die Quadrate der Geschwindigkeiten, womit die einzelnen Gasmoleküle sich bewegen, sich bei gleicher Temperatur umgekehrt verhalten wie die Molekulargewichte, tritt die Wärme auch direkt in die Reihe der unmittelbar als solche meßbaren Bewegungsformen. Wurde noch vor zehn Jahren das neuentdeckte große Grundgesetz der Bewegung gefaßt als bloßes Gesetz von der Erhaltung der Energie, als bloßer Ausdruck der Unzerstörbarkeit und Unerschaffbarkeit der Bewegung, also bloß nach seiner quantitativen Seite, so wird dieser enge, negative Ausdruck mehr und mehr verdrängt durch den positiven der Verwandlung der Energie, worin erst der qualitative Inhalt des Prozesses zu seinem Recht kommt und worin die letzte Erinnerung an den außerweltlichen Schöpfer ausgelöscht ist. Daß die Menge der Bewegung (der sogenannten Energie) sich nicht verändert, wenn sie sich aus kinetischer Energie (sogenannter mechanischer Kraft) in Elektrizität, Wärme, potentielle Energie der Lage etc. verwandelt und umgekehrt, braucht jetzt nicht mehr als etwas Neues gepredigt zu werden; es dient als einmal gewonnene Grundlage der nun viel inhaltsvollern Untersuchung des Verwandlungsprozesses selbst, des großen Grundprozesses, in dessen Erkenntnis die ganze Erkenntnis der Natur sich zusammenfaßt. Und seitdem die Biologie mit der Leuchte der Evolutionstheorie betrieben wird, hat sich auf dem Gebiet der organischen Natur eine starre Grenzlinie der Klassifikation nach der andern aufgelöst; die fast unklassifizierbaren Mittelglieder mehren sich täglich, die genauere Untersuchung wirft Organismen aus einer Klasse in die andre, und fast zu Glaubensartikeln gewordne Unterscheidungsmerkmale verlieren ihre unbedingte Gültigkeit; wir haben[13] jetzt eierlegende Säugetiere, und wenn die Nachricht sich bestätigt, auch Vögel, die auf allen vieren gehn. War schon vor Jahren Virchow genötigt gewesen, infolge der Entdeckung der Zelle die Einheit des tierischen Individuums mehr fortschrittlich als naturwissenschaftlich und dialektisch in eine Föderation von Zellenstaaten aufzulösen, so wird der Begriff der tierischen (also auch menschlichen) Individualität noch weit verwickelter durch die Entdeckung der amöbenartig im Körper der höhern Tiere herumkriechenden weißen Blutzellen. Es sind aber grade die als unversöhnlich und unlösbar vorgestellten polaren Gegensätze, die gewaltsam fixierten Grenzlinien und Klassenunterschiede, die der modernen theoretischen Naturwissenschaft ihren beschränkt-metaphysischen Charakter gegeben haben. Die Erkenntnis, daß diese Gegensätze und Unterschiede in der Natur zwar vorkommen, aber nur mit relativer Gültigkeit, daß dagegen jene ihre vorgestellte Starrheit und absolute Gültigkeit erst durch unsre Reflexion in die Natur hineingetragen ist – diese Erkenntnis macht den Kernpunkt der dialektischen Auffassung der Natur aus. Man kann zu ihr gelangen, indem man von den sich häufenden Tatsachen der Naturwissenschaft dazu gezwungen wird; man gelangt leichter dahin, wenn man dem dialektischen Charakter dieser Tatsachen das Bewußtsein der Gesetze des dialektischen Denkens entgegenbringt. Jedenfalls ist die Naturwissenschaft jetzt so weit, daß sie der dialektischen Zusammenfassung nicht mehr entrinnt. Sie wird sich diesen Prozeß aber erleichtern, wenn sie nicht vergißt, daß die Resultate, worin sich ihre Erfahrungen zusammenfassen, Begriffe sind; daß aber die Kunst, mit Begriffen zu operieren, nicht eingeboren und auch nicht mit dem gewöhnlichen Alltagsbewußtsein gegeben ist, sondern wirkliches Denken erfordert, welches Denken ebenfalls eine lange erfahrungsmäßige Geschichte hat, nicht mehr und nicht minder als die erfahrungsmäßige Naturforschung. Eben dadurch, daß sie sich die Resultate der dritthalbtausendjährigen Entwicklung der Philosophie aneignen lernt, wird sie einerseits jede aparte, außer und über ihr stehende Naturphilosophie los, andrerseits aber auch ihre eigne, aus dem englischen Empirismus überkommne, bornierte Denkmethode.
London, 23. September 1885[14]
Fußnoten
1 Es ist viel leichter, mit dem gedankenlosen Vulgus à la Karl Vogt über die alte Naturphilosophie herzufallen, als ihre geschichtliche Bedeutung zu würdigen.
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