Jetzt erst brach das Tageslicht an; von nun an sollte der Aberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durch die ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und die unveräußerlichen Menschenrechte.
Wir wissen jetzt, daß dies Reich der Vernunft weiter nichts war, als das idealisierte Reich der Bourgeoisie; daß die ewige Gerechtigkeit ihre Verwirklichung fand in der Bourgeoisjustiz; daß die Gleichheit hinauslief auf die bürgerliche Gleichheit vor dem Gesetz; daß als eins der wesentlichsten Menschenrechte proklamiert wurde – das bürgerliche Eigentum; und daß der Vernunftstaat, der Rousseausche Gesellschaftsvertrag ins Leben trat und nur ins Leben treten konnte als bürgerliche, demokratische Republik. Sowenig wie alle ihre Vorgänger, konnten die großen Denker des 18. Jahrhunderts über die Schranken hinaus, die ihnen ihre eigne Epoche gesetzt hatte.
Aber neben dem Gegensatz von Feudaladel und Bürgertum bestand der allgemeine Gegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten, von reichen Müßiggängern und arbeitenden Armen. War es doch grade dieser Umstand, der es den Vertretern der Bourgeoisie möglich machte, sich als Vertreter, nicht einer besondren Klasse, sondern der ganzen leidenden Menschheit hinzustellen. Noch mehr. Von ihrem Ursprung an war die Bourgeoisie behaftet mit ihrem Gegensatz: Kapitalisten können nicht bestehn ohne Lohnarbeiter, und im selben Verhältnis wie der mittelalterliche Zunftbürger sich zum modernen Bourgeois, im selben Verhältnis entwickelte sich auch der Zunftgeselle und nichtzünftige Tagelöhner zum Proletarier. Und wenn auch im ganzen und großen das Bürgertum beanspruchen durfte, im Kampf mit dem Adel gleichzeitig die Interessen der verschiednen arbeitenden Klassen jener Zeit mitzuvertreten, so brachen doch bei jeder großen bürgerlichen Bewegung selbständige Regungen derjenigen Klasse hervor, die die mehr oder weniger entwickelte Vorgängerin des modernen Proletariats war. So in der deutschen Reformations- und Bauernkriegszeit die Thomas Münzersche Richtung; in der großen englischen Revolution die Levellers; in der großen französischen Revolution Babeuf. Neben diesen[17] revolutionären Schilderhebungen einer noch unfertigen Klapse gingen entsprechende theoretische Manifestationen her; im 16. und 17. Jahrhundert utopische Schilderungen idealer Gesellschaftszustände, im 18. schon direkt kommunistische Theorien (Morelly und Mably), Die Forderung der Gleichheit wurde nicht mehr auf die politischen Rechte beschränkt, sie sollte sich auch auf die gesellschaftliche Lage der einzelnen erstrecken; nicht bloß die Klassenprivilegien sollten aufgehoben werden, sondern die Klassenunterschiede selbst. Ein asketischer, an Sparta anknüpfender Kommunismus war so die erste Erscheinungsform der neuen Lehre. Dann folgten die drei großen Utopisten: Saint-Simon, bei dem die bürgerliche Richtung noch neben der proletarischen eine gewisse Geltung behielt; Fourier, und Owen, der, im Lande der entwickeltsten kapitalistischen Produktion und unter dem Eindruck der durch diese erzeugten Gegensätze, seine Vorschläge zur Beseitigung der Klassenunterschiede in direkter Anknüpfung an den französischen Materialismus systematisch entwickelte.
Allen dreien ist gemeinsam, daß sie nicht als Vertreter der Interessen des inzwischen historisch erzeugten Proletariats auftreten. Wie die Aufklärer, wollen sie nicht eine bestimmte Klasse, sondern die ganze Menschheit befreien. Wie jene, wollen sie das Reich der Vernunft und der ewigen Gerechtigkeit einführen; aber ihr Reich ist himmelweit verschieden von dem der Aufklärer. Auch die nach den Grundsätzen dieser Aufklärer eingerichtete bürgerliche Welt ist unvernünftig und ungerecht und wandert daher ebensogut in den Topf des Verwerflichen wie der Feudalismus und alle frühern Gesellschaftszustände. Daß die wirkliche Vernunft und Gerechtigkeit bisher nicht in der Welt geherrscht haben, kommt nur daher, daß man sie bisher nicht richtig erkannt hatte. Es fehlte eben der geniale einzelne Mann, der jetzt aufgetreten, und der die Wahrheit erkannt hat; daß er jetzt aufgetreten, daß die Wahrheit grade jetzt erkannt worden, ist nicht ein aus dem Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung mit Notwendigkeit folgendes, unvermeidliches Ereignis, sondern ein reiner Glücksfall. Er hätte ebensogut 500 Jahre früher geboren werden können und hätte dann der Menschheit 500 Jahre Irrtum, Kämpfe und Leiden erspart.
Diese Anschauungsweise ist wesentlich die aller englischen und französischen und der ersten deutschen Sozialisten, Weitling einbegriffen. Der Sozialismus ist der Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit, und braucht nur entdeckt zu werden, um durch eigne Kraft die Welt zu erobern; da die absolute Wahrheit unabhängig von Zeit, Raum und menschlicher, geschichtlicher Entwicklung ist, so ist es bloßer Zufall, wann[18] und wo sie entdeckt wird. Dabei ist dann die absolute Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wieder bei jedem Schulstifter verschieden; und da bei einem jeden die besondre Art der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit wieder bedingt ist durch seinen subjektiven Verstand, seine Lebensbedingungen, sein Maß von Kenntnissen und Denkschulung, so ist in diesem Konflikt absoluter Wahrheiten keine andre Lösung möglich, als daß sie sich aneinander abschleißen. Dabei konnte dann nichts andres herauskommen, als eine Art von eklektischem Durchschnittssozialismus, wie er in der Tat bis heute in den Köpfen der meisten sozialistischen Arbeiter in Frankreich und England herrscht, eine, äußerst mannigfaltige Schattierungen zulassende, Mischung aus den weniger auffälligen kritischen Auslassungen, ökonomischen Lehrsätzen und gesellschaftlichen Zukunftsvorstellungen der verschiednen Sektenstifter, eine Mischung, die sich um so leichter bewerkstelligt, je mehr den einzelnen Bestandteilen im Strom der Debatte die scharfen Ecken der Bestimmtheit abgeschliffen sind wie runden Kieseln im Bach. Um aus dem Sozialismus eine Wissenschaft zu machen, mußte er erst auf einen realen Boden gestellt werden.
Inzwischen war neben und nach der französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts die neuere deutsche Philosophie entstanden und hatte in Hegel ihren Abschluß gefunden. Ihr größtes Verdienst war die Wiederaufnahme der Dialektik als der höchsten Form des Denkens. Die alten griechischen Philosophen waren alle geborne, naturwüchsige Dialektiker, und der universellste Kopf unter ihnen, Aristoteles, hat auch bereits die wesentlichsten Formen des dialektischen Denkens untersucht. Die neuere Philosophie dagegen, obwohl auch in ihr die Dialektik glänzende Vertreter hatte (z.B. Descartes und Spinoza), war besonders durch englischen Einfluß mehr und mehr in der sog. metaphysischen Denkweise festgefahren, von der auch die Franzosen des 18.
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