Von diesem Gesichtspunkt aus erschien die Geschichte der Menschheit nicht mehr als ein wüstes Gewirr sinnloser Gewalttätigkeiten, die vor dem Richterstuhl der jetzt gereiften Philosophenvernunft alle gleich verwerflich sind und die man am besten so rasch wie möglich vergißt, sondern als der Entwicklungsprozeß der Menschheit selbst, dessen allmählichen Stufengang durch alle Irrwege zu verfolgen und dessen innere Gesetzmäßigkeit durch alle scheinbaren Zufälligkeiten hindurch nachzuweisen jetzt die Aufgabe des Denkens wurde.
Daß Hegel diese Aufgabe nicht löste, ist hier gleichgültig. Sein epochemachendes Verdienst war, sie gestellt zu haben. Es ist eben eine Aufgabe, die kein einzelner je wird lösen können. Obwohl Hegel – neben Saint-Simon – der universellste Kopf seiner Zeit war, so war er doch beschränkt erstens durch den notwendig begrenzten Umfang seiner eignen Kenntnisse und zweitens durch die ebenfalls nach Umfang und Tiefe begrenzten Kenntnisse und Anschauungen seiner Epoche. Dazu kam aber noch ein Drittes. Hegel war Idealist, d.h., ihm galten die Gedanken seines Kopfs nicht als die mehr oder weniger abstrakten Abbilder der wirklichen Dinge und Vorgänge, sondern umgekehrt galten ihm die Dinge und ihre Entwicklung nur als die verwirklichten Abbilder der irgendwo schon vor der Welt existierenden »Idee«. Damit war alles auf den Kopf gestellt und der wirkliche Zusammenhang der Welt vollständig umgekehrt. Und so richtig und genial auch manche Einzelzusammenhänge von Hegel aufgefaßt worden, so mußte doch aus den angegebnen Gründen auch im Detail vieles geflickt, gekünstelt, konstruiert, kurz verkehrt ausfallen. Das Hegelsche System als solches war eine kolossale Fehlgeburt – aber auch die letzte ihrer Art. Es litt nämlich noch an einem unheilbaren innern Widerspruch: einerseits hatte es zur wesentlichen Voraussetzung die historische Anschauung, wonach die menschliche Geschichte ein Entwicklungsprozeß ist, der seiner Natur nach nicht durch die Entdeckung einer sogenannten absoluten Wahrheit[23] seinen intellektuellen Abschluß finden kann; andrerseits aber behauptet es, der Inbegriff eben dieser absoluten Wahrheit zu sein. Ein allumfassendes, ein für allemal abschließendes System der Erkenntnis von Natur und Geschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des dialektischen Denkens; was indes keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil einschließt, daß die systematische Erkenntnis der gesamten äußern Welt von Geschlecht zu Geschlecht Riesenschritte machen kann.
Die Einsicht in die totale Verkehrtheit des bisherigen deutschen Idealismus führte notwendig zum Materialismus, aber wohlgemerkt, nicht zum bloß metaphysischen, ausschließlich mechanischen Materialismus des 18. Jahrhunderts. Gegenüber der naiv-revolutionären, einfachen Verwerfung aller frühern Geschichte, sieht der moderne Materialismus in der Geschichte den Entwicklungsprozeß der Menschheit, dessen Bewegungsgesetze zu entdecken seine Aufgabe ist. Gegenüber der sowohl bei den Franzosen des 18. Jahrhunderts wie bei Hegel herrschenden Vorstellung von der Natur als eines sich in engen Kreisläufen bewegenden, sich gleichbleibenden Ganzen mit ewigen Weltkörpern, wie sie Newton, und unveränderlichen Arten von organischen Wesen, wie sie Linné gelehrt hatte, faßt er die neueren Fortschritte der Naturwissenschaft zusammen, wonach die Natur ebenfalls ihre Geschichte in der Zeit hat, die Weltkörper wie die Artungen der Organismen, von denen sie unter günstigen Umständen bewohnt werden, entstehn und vergehn, und die Kreisläufe, soweit sie überhaupt zulässig sind, unendlich großartigere Dimensionen annehmen. In beiden Fällen ist er wesentlich dialektisch und braucht keine über den andern Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehn bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen – die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte.
Während jedoch der Umschwung der Naturanschauung nur in dem Maß sich vollziehn konnte, als die Forschung den entsprechenden positiven Erkenntnisstoff lieferte, hatten sich schon viel früher historische Tatsachen geltend gemacht, die für die Geschichtsauffassung eine entscheidende Wendung herbeiführten. 1831 hatte in Lyon der erste Arbeiteraufstand stattgefunden; 1838 bis 1842 erreichte die erste nationale Arbeiterbewegung, die der englischen Chartisten, ihren Höhepunkt. Der Klassenkampf[24] zwischen Proletariat und Bourgeoisie trat in den Vordergrund der Geschichte der fortgeschrittensten Länder Europas, in demselben Maß, wie sich dort einerseits die große Industrie, andrerseits die neueroberte politische Herrschaft der Bourgeoisie entwickelte. Die Lehren der bürgerlichen Ökonomie von der Identität der Interessen von Kapital und Arbeit, von der allgemeinen Harmonie und dem allgemeinen Volkswohlstand als Folge der freien Konkurrenz, wurden immer schlagender von den Tatsachen Lügen gestraft. Alle diese Dinge waren nicht mehr abzuweisen, ebensowenig wie der französische und englische Sozialismus, der ihr theoretischer, wenn auch höchst unvollkommner Ausdruck war. Aber die alte idealistische Geschichtsauffassung, die noch nicht verdrängt war, kannte keine auf materiellen Interessen beruhenden Klassenkämpfe, überhaupt keine materiellen Interessen; die Produktion wie alle ökonomischen Verhältnisse kamen in ihr nur so nebenbei, als untergeordnete Elemente der »Kulturgeschichte« vor.
Die neuen Tatsachen zwangen dazu, die ganze bisherige Geschichte einer neuen Untersuchung zu unterwerfen, und da zeigte sich, daß alle bisherige Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen war, daß diese einander bekämpfenden Klassen der Gesellschaft jedesmal Erzeugnisse sind der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, mit Einem Wort der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche; daß also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklären sind. Hiermit war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären.
Mit dieser materialistischen Geschichtsauffassung war aber der bisherige Sozialismus ebenso unverträglich wie die Naturauffassung des französischen Materialismus mit der Dialektik und der neueren Naturwissenschaft.[25] Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die Bestehende kapitalistische Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch nicht mit ihr fertig werden; er konnte sie nur einfach als schlecht verwerfen. Es handelte sich aber darum, diese kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt, also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andrerseits aber auch ihren innern Charakter zu enthüllen, der noch immer verborgen war, da die bisherige Kritik sich mehr auf die üblen Folgen als auf den Gang der Sache selbst geworfen hatte. Dies geschah durch die Entdeckung des Mehrwerts. Es wurde bewiesen, daß die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzognen Ausbeutung des Arbeiters ist; daß der Kapitalist, selbst wenn er die Arbeitskraft seines Arbeiters zum vollen Wert kauft, den sie als Ware auf dem Warenmarkt hat, dennoch mehr Wert aus ihr herausschlägt, als er für sie bezahlt hat; und daß dieser Mehrwert in letzter Instanz die Wertsumme bildet, aus der sich die stets wachsende Kapitalmasse in den Händen der besitzenden Klassen aufhäuft. Der Hergang sowohl der kapitalistischen Produktion wie der Produktion von Kapital war erklärt.
Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts, verdanken wir Marx. Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nun zunächst darum handelt, in allen ihren Einzelnheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten.
So etwa standen die Sachen auf dem Gebiete des theoretischen Sozialismus und der verstorbenen Philosophie, als Herr Eugen Dühring nicht ohne beträchtliches Gepolter auf die Bühne sprang und eine durch ihn vollzogene, totale Umwälzung der Philosophie, der politischen Ökonomie und des Sozialismus ankündigte.
Sehn wir zu, was Herr Dühring uns verspricht und – was er hält.[26]
II.
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