Ihr Auge ruhte mit einem Blick auf den beiden entseelten Körpern, der mich durchfröstelte und von ihr abstieß, und erst nach und nach, als sie es zu mir erhob, bekam es einen freundlicheren Ausdruck.
„Warum nahmt Ihr den Skalp nicht für Euch, Sir?“ fragte sie. „Habt schon Winnetou einen gelassen.“
Von einem weiblichen Wesen ausgesprochen, war mir diese Frage vollständig unbegreiflich, und ich antwortete deshalb auch nur mit einem Blick des Erstaunens. Auch war hier der Ort gar nicht zu zartsinnigen Bemerkungen; denn hinter jedem Baum konnte die Sehne eines Bogens schwirren oder der Hahn einer Büchse knacken, und es war vor allen Dingen notwendig, das Lager zu alarmieren und die Jäger darauf aufmerksam zu machen.
„Greift zu, Sam; wollen die Indsmen unsichtbar machen.“
„Habt recht, Sir! Ist notwendig das, meine ich. Aber die kleine Miß mag doch ein wenig hinter die Büsche treten; ich wette meine Mokassins gegen ein Paar Ballettschuhe, daß es in kurzer Zeit hier rote Männer geben wird.“
Sie folgte der Warnung des Alten, und ich verbarg mit seiner Hilfe die Leichen, welche wir vorsichtigerweise nicht in das Wasser stoßen durften, unter das Uferschilf. Als wir damit fertig waren, meinte Hawkens:
„So, das wäre getan, und nun geht Ihr mit der kleinen Miß nach der ‚Festung‘ und warnt unsere Leute, während ich diese Spuren zurückgehen werde, um etwas mehr zu erfahren, als die beiden Braunen uns gesagt haben, scheint es mir.“
„Mögt nicht lieber Ihr zum Vater gehen, Sam Hawkens?“ fragte Ellen. „Ihr versteht besser mit den Fallen umzugehen, und vier Augen sehen mehr als zwei.“
„Hm! Wenn die kleine Miß es nicht anders will, so muß ich's schon tun, meine ich; aber wenn der Stock anders schwimmt, als sie es jetzt denkt, so mag ich nicht die Schuld haben.“
„Habt sie auch nicht, Alter! Wißt schon, daß ich nicht gern etwas anderes tue, als was mir beliebt. Eure zwei Skalps habt Ihr; muß sehen, daß ich mir meinen Teil auch hole. Kommt, Sir!“
Sie ließ den kleinen Trapper stehen und wandte sich durch das Dickicht weiter vorwärts. Ich folgte ihr.
Obgleich es die Umstände erforderten, daß ich meine volle Aufmerksamkeit auf die Umgebung richtete, konnte ich doch nicht umhin, an das Verhalten des Mädchens zu denken, welches mit der vollständigen Gewandtheit eines erfahrenen Waldläufers sich geräuschlos durch das Gestrüpp arbeitete und in jeder seiner Bewegungen ein Bild der angestrengtesten Vorsicht bot.
Es war gar nicht anders möglich, sie mußte schon von Jugend auf mit dem Leben im ‚Jagdland‘ vertraut sein, mußte Eindrücke empfangen haben, welche ihre Sinne geschärft, ihr Gefühl gehärtet und dem Lauf ihres Schicksals eine so ungewöhnliche Richtung gegeben hatten. Aber trotz alledem wirkte die vorhin gezeigte Nervenstärke fast erkältend auf mich, und die Glorie, mit welcher meine Erinnerung ihr Bild umgeben hatte, ward von der rauhen, rücksichtslosen Wirklichkeit verdunkelt.
Die Angst, welche sie vorhin gezeigt, als ich im Begriff stand, mich auf den Indianer zu stürzen, hätte mich in anderer Lage beseligen können; aber die dabei ausgesprochenen Worte ‚ich werde es an Eurer Stelle tun‘ mußten mir die Überzeugung geben, daß sie mit ruhigem Blut und ohne zaghaftes Bedenken ein Menschenleben zu zerstören vermöge, und ich konnte die Ansicht nicht von mir weisen, daß Büchse und Messer in den Händen des Mannes Waffen, in denen eines Weibes aber Mordinstrumente seien.
Wohl beinahe eine Stunde lang waren wir ununterbrochen vorwärts gedrungen, als wir an eine zweite Biberkolonie kamen, deren Bewohner aber nicht außerhalb ihrer Wohnungen zu erblicken waren.
„Hier haben wir die Fallen gestellt, welche wir den Rothäuten wieder abgenommen haben, Sir, und weiter droben teilt sich der Bee-fork ab, wo wir ursprünglich hin wollten. Doch wird's wohl anders kommen; denn, seht, die Spuren laufen nach dem Wald, aus welchem sie gekommen sind. Wir müssen sie verfolgen.“
Sie stand im Begriff, weiter zu gehen, als ich sie zurückhielt.
„Miß Ellen!“
Sie blieb stehen und sah mich fragend an.
„Wollt Ihr nicht lieber umkehren und das andere mir allein überlassen?“
„Wie kommt Ihr auf diesen Gedanken?“
„Kennt Ihr die Gefahren, welche unserer da vorn vielleicht warten?“
„Warum sollte ich nicht? Sie können unmöglich größer sein als diejenigen, denen ich schon getrotzt und die ich überwunden habe.“
„Ihr müßt Euch erhalten!“
„Das will und das werde ich ja auch. Oder glaubt Ihr etwa, daß mich der Anblick eines bunt bemalten Mannes zu erschrecken vermöge?“
„Ich wollte, es wäre so!“
„Wirklich?“
Sie sprach das Wort langsam und gezogen aus, und ihre Augen ruhten mit forschendem Blick auf meinem Angesicht. Aber ich sah ein leises und nach und nach sich immer mehr vertiefendes Rot in ihre Wangen steigen und wußte nun, daß sie mich verstanden hatte.
Ihr Auge suchte den Boden, und ich bemerkte deutlich, daß sie mit ihren Gefühlen kämpfte.
„Ist ein weibliches Wesen hassenswert, wenn es dasselbe tut, was sonst nur dem Mann gestattet ist?“
„Hassenswert, nein“, antwortete ich, die beiden ersten Silben betonend; „aber der Haß ist nicht das einzige, was man gewöhnlich zu vermeiden strebt.“
Eine ganze Weile verging im Schweigen, ehe sie den Blick wieder erhob und ihn voll und groß auf mich richtete.
„Ihr urteilt nach dem Augenblick und legt den Maßstab der Gewöhnlichkeit an Verhältnisse, welche mehr als ungewöhnlich sind, die meinem Leben den Wahlspruch der Rache und des Kampfes gegeben haben; jetzt aber kommt; wir dürfen nicht unvorsichtig oder nachlässig sein.“
Wieder ging es vorwärts. Wir entfernten uns jetzt vom Fluß und schritten leicht zwischen den schlanken und freien Stämmen des Hochwaldes hin, welcher ein dichtes, grünes Dach über den mit feuchtem Moos überzogenen Boden wölbte, infolge dessen weicher Beschaffenheit wir die Fußeindrücke ohne besonderen Scharfsinn erkennen konnten.
Da blieb Ellen, welche immer noch voranschritt, stehen. Es waren jetzt die Spuren nicht von zwei, sondern von vier Männern zu erkennen, welche zusammen gegangen waren und sich hier getrennt hatten. Die beiden von uns unschädlich Gemachten hatten die vollständige Kriegsbewaffnung getragen, und da ich annahm, daß eine größere Anzahl ihrer Stammesgenossen vorhanden sei, welche nur durch ein wichtiges Unternehmen veranlaßt sein konnte, einen so weiten Weg mitten durch das Gebiet feindlicher Horden zu machen, so kam ich jetzt auf den Gedanken, daß dieses Unternehmen vielleicht mit dem gestörten Bahnüberfall in Verbindung stehe und einer jener Rachezüge sei, bei denen die Indianer alles aufbieten, um eine erlittene Beleidigung oder einen gehabten Verlust quitt zu machen.
„Was tun wir?“ fragte Ellen. „Diese Spuren führen in der Richtung nach unserem Lager, welches wir der Entdeckung nicht aussetzen dürfen. Verfolgen wir sie, oder teilen wir uns, Sir?“
„Und diese vierfache Spur geht jedenfalls zum Lager der Rothäute, welche sich natürlich verborgen haben und die Rückkehr ihrer Kundschafter abwarten. Vor allen Dingen müssen wir dieses aufsuchen, um Gewißheit über ihre Zahl und Zweck zu bekommen. Der Eingang zu unserer Ritterburg wird ja von einem Posten bewacht, der das Seinige schon tun wird, unser Geheimnis zu bewahren.“
„Ihr habt recht. Gehen wir vorwärts!“
Der Wald lief von der Höhe, zu welcher das Flußtal emporstieg, eine ansehnliche Strecke in die Ebene hinein und war von tiefen, felsigen Rinnen durchschnitten, in welchen Farnkraut und wildes Beerengesträuch üppig wucherte. Eben nahten wir uns leise einer dieser Einsenkungen, als ich einen brenzlichen Geruch bemerkte und, dadurch aufmerksam gemacht, so daß ich mit schärferem Blick die Waldung zu durchdringen suchte, eine leichte, dünne Rauchsäule wahrnahm, welche oft unterbrochen oder auch ganz verschwindend, in spielender Bewegung gerade vor uns zu den Baumkronen in die Höhe stieg.
Dieser Rauch konnte nur von einem Indianerfeuer kommen; denn während der Weiße das Holz gleich in seiner ganzen Länge in die Glut wirft und dadurch eine breite und hochleckende Flamme hervorbringt, welche stets eine ansehnliche und oft verräterische Menge Rauch erzeugt, schiebt der Wilde die Scheite nur mit den Spitzen in das Feuer, wodurch nur eine kleine Flamme mit kaum wahrnehmbarem Rauch entsteht. Winnetou hatte mich auf das Vorteilhafte der letzteren Weise aufmerksam gemacht und wiederholt gesagt: „Mein Bruder macht mit seinem Feuer soviel Hitze, daß er sich nicht daran setzen kann, um sich zu wärmen.“
Ich hielt Ellen zurück und machte sie auf meine Bemerkung aufmerksam.
„Steckt Euch hinter jenes Gestrüpp, Miß; ich werde mir die Leute ansehen!“
„Warum nicht auch ich?“
„Einer genügt; bei zweien ist die Gefahr des Entdeckens eine doppelt große.“
Sie nickte zustimmend und schritt, behutsam jede Spur verwischend, seitwärts, während ich, von Stamm zu Stamm Deckung suchend, gegen die Rinne schlich.
Auf dem Grund derselben saßen und lagen eng aneinander gedrängt eine solche Menge der Rothäute, daß sie die Vertiefung kaum zu fassen vermochte; unten am Ausgang derselben stand bewegungslos wie eine eherne Statue ein junger, langhaariger Bursche, und auch hüben und drüben am Rand bemerkte ich Wachen, denen mein Nahen glücklicherweise vollständig entgangen war.
Ich versuchte, die Lagernden zu zählen, und nahm deshalb jeden einzelnen ins Auge, hielt aber bald in größter Überraschung inne. Als der Nächste am Feuer saß – war es denn nur auch möglich – der weiße Häuptling, Parranoh oder Tim Finnetey, wie er von Old Firehand genannt worden war. Ich hatte in jener Nacht sein Gesicht beim Schein des Mondes und dann beim Niederstoßen seiner Person zu deutlich gesehen, um mich jetzt täuschen zu können, und doch wurde ich irre an mir selbst; denn von seinem Kopf hing die prächtigste Skalplocke herab, während Winnetou sie ihm doch genommen und nicht eine Minute lang aus seinem Gürtel gebracht hatte.
Da machte der Wachtposten, welcher diesseits der Schlucht stand, eine Bewegung nach dem Ort zu, an welchem ich, von einem Felsstück verborgen, lag, und ich mußte mich deshalb schleunigst zurückziehen.
Glücklich bei Ellen angelangt, winkte ich ihr, mir zu folgen, und schritt nun den Weg, welchen wir gekommen waren, wieder bis zu der Stelle zurück, an welcher sich die Spuren teilten. Von hier aus verfolgten wir die neue Fährte, welche durch das dichteste Pflanzengewirr immer gerade auf das Tal zu lief, durch welches wir gestern gekommen und von dem Posten angerufen worden waren.
Es war mir jetzt klar, daß uns die Ogellallahs Schritt um Schritt gefolgt waren, um sich an uns zu rächen. Unser Aufenthalt bei den Bahnarbeitern während der Krankheit Old Firehands hatte ihnen Zeit gegeben, alle verfügbaren Kräfte zusammenzuziehen; aber warum sich wegen uns dreien eine so große Zahl streitbarer Krieger versammelt hatte, warum sie nicht schon längst über uns hergefallen waren und statt dessen uns ruhig hatten ziehen lassen, das konnte ich nicht begreifen, wenn ich nicht annehmen wollte, daß Parranoh von der Jägerniederlassung wisse und seine Pläne auf sämtliche Angehörigen derselben erstreckte.
Die beiden Vorangeschlichenen hatten uns gut Bahn gebrochen, so daß wir verhältnismäßig schnell vorwärts kamen und uns gar nicht mehr weit von dem senkrecht unsere Richtung durchschneidenden Tal befinden konnten, als ich ein leises Klirren vernahm, welches hinter einem dichten Gebüsch wilder Kirschenstämmchen hervorklang.
Ellen mit einer Handbewegung bedeutend, sich zu verstecken, legte ich mich sogleich auf den Boden nieder, zog das Messer und kroch auf einem Umweg der erwähnten Richtung zu. Das nächste nicht an diesen Ort Gehörige, was ich erblickte, war ein Haufen eiserner Biberfallen, neben welchem ein Paar krumme Beinchen sichtbar wurden, welche in riesigen Mokassins staken. Weiter heranschleichend bemerkte ich auch ein langes, weites Sackhemd, auf dessen oberem Teil die breite, runzelige Krempe eines uralten Filzhutes lag, und etwas abwärts von dieser Krempe sah ich die gerade und dornig abstehenden Spitzen eines verworrenen Bartes, aus welchem zwei kleine Äuglein munter und aufmerksam durch das Blätterwerk lugten.
Es war Sam, der Kleine.
1 comment