Ghulam ist aber auch ein Diener; besonders werden berittene Diener so genannt, und unter Ghulam Pätschä versteht man den Pagen, den jungen Leibdiener eines hohen Herrn. Du siehst also, daß wir uns in einer Ungewißheit befinden, die uns in Verlegenheit bringen kann.“

„Vielleicht könnte uns der Inhalt des Briefes Aufschluß geben?“

„Möglich!“

„So öffne ihn doch!“

„Ich gehöre nicht zu den Leuten, denen das Briefgeheimnis nicht heilig ist.“

„Briefgeheimnis? Erlaube, Sihdi, daß jeder Brief geschrieben wird, um gelesen zu werden. Dieser ist an Ghulam gerichtet, der ihn lesen soll. Weil wir aber nicht wissen, wer, was und wo dieser Ghulam ist, wird er ihn nicht bekommen, außer wir öffnen das Schreiben, um zu erfahren, wo und an wen wir es abzugeben haben. Das Öffnen des Briefes ist also keine verbotene Handlung, sondern eine Notwendigkeit, und wenn wir ihr Gehorsam leisten, muß uns Ghulam dafür dankbar sein.“

„Wie schön du das zu sagen weißt, lieber Halef! Du bist immer der Schlaue!“

„Ja, der bin ich! Wenn die Länge deines Verstandes nicht ausreicht, so muß ich dir mit der Breite des meinigen zu Hilfe kommen. Das weißt du doch schon längst.“

„Leider aber gilt hier diese ganze Breite mit allen ihren Finessen nichts. Wenn wir den Adressaten des Briefes nicht kennen, haben wir uns bei dem, der dir das Schreiben übergeben hat, nach ihm zu erkundigen, also beim Kawedschi. So ist die Sache.“

„Das dürfen wir aber doch nicht!“

„So müssen wir den Brief zurückgeben.“

„Das fällt uns gar nicht ein! Sihdi, ich würde den Brief öffnen, ohne zu denken, daß ich dadurch einen Platz in der Hölle bekomme. Dein Gewissen aber ist nicht so kräftig wie das meinige, sondern im höchsten Grade tschapuk kydschyklanyr (kitzlich), was unter Umständen, wie der jetzige, tief zu beklagen ist. Gib mir den Brief wieder! Ich werde ihn aufmachen, und dann kannst du ihn lesen, ohne dir Vorwürfe darüber machen zu müssen.“

„Ich halte das noch nicht für notwendig; wir haben ja Zeit zum Überlegen. Erzähle weiter!“

„Der Kawedschi war bereit, mir den Brief anzuvertrauen, und da dies aber niemand sehen sollte, wollte er dies heimlich tun, denn auch der Somali durfte nichts davon wissen. Er bat mich darum, mit ihm hinauf unter das Dach zu steigen, wo er ihn versteckt hatte.“

„Vielleicht befindet sich da oben überhaupt ein Versteck für Dinge, welche sich auf die geheime Verbrüderung der Sillan beziehen?“

„Das ist möglich, Sihdi.“

„Hast du nichts bemerkt?“

„Nein.“

„Der Kawedschi scheint als Postbeamter dieser Verbindung tätig zu sein; da ist es denkbar, daß man außer Briefen auch andere Dinge bei ihm niederlegt. Wo hatte er das Schreiben versteckt?“

„Das werde ich dir gleich sagen, sobald ich an die betreffende Stelle komme. Wir gingen in den Hof, wo die Leiter steht. Ich mußte ihn führen, denn er wankte unausgesetzt zwischen dem Orient und dem Okzident herüber und hinüber und knickte bei jedem Schritte zusammen, als ob er zehn übermäßige Kamellasten auf dem Rücken trage. Wie ich mit ihm die vielen Sprossen hinaufgekommen bin, das kann ich dir gar nicht sagen. Endlich oben angekommen, setzte er sich gleich nieder und wollte schlafen; er hatte alles, auch den Brief, vollständig vergessen, und ich mußte sehr lange in ihn hineinsprechen, ehe er sich besann, in welcher Absicht wir so mühsam herauf geklettert waren.“

„Wie war der Raum beschaffen?“

„Er war so lang und breit wie das an vielen Stellen offene Rohrdach, aber so niedrig, daß man nicht aufrecht stehen konnte. Es lag da überall altes, wertloses Gerümpel herum, für welches ich nicht einen einzigen Piaster geboten hätte. Der Brief war in einen Lappen eingeschlagen und steckte in einer Ritze der Wand.“

„War diese Ritze groß?“

„Nein.“

„Steckte er allein darin?“

„Ja.“

„So bildete sie kein Sammelversteck und war bestimmt, nur ihn zu verbergen. Es ist mir das ein Beweis, daß es da oben überhaupt keine heimliche Stelle gibt, welche dem Sillan als Aufbewahrungsstätte dient. Es wird also wohl so sein, daß dem Kawedschi nur zuweilen ein Brief zur Übergabe an den Boten anvertraut wird. Wäre ein geheimes und regelmäßig benutztes Versteck vorhanden, so hätte der Wirt den Brief dahinein und nicht in die Wandritze getan. Was hat er gesagt, als er dir ihn gab?“

„Auch wieder allerlei unverständliches Zeug. Als ich ihn eingesteckt hatte und wir wieder an die Leiter kamen, um herabzusteigen, weigerte er sich, dies zu tun. Er glaubte plötzlich, am Fluß zu sein; er sah die Wogen fließen und hörte ihr Rauschen; darum setzte er sich nieder und war nicht zu bewegen, den Fuß auf die Leiter zu setzen. Er wollte nicht ersaufen, sagte er; dann fiel er vollends um und schlief sofort ein. Das ist alles, was ich dir sagen kann. Weiter habe ich nichts gesehen und nichts erfahren können.“

„So möchte ich einmal zu ihm gehen.“

„Versuche, ob du mehr erfährst als ich. Ich glaube aber nicht, daß es dir gelingt. Soll ich dir zeigen, wo er ist?“

„Ich finde ihn selbst; zeigen ist also nicht notwendig; aber mitgehen kannst du doch.“

Als wir durch den Vorderraum kamen, sah ich den Somali.