Doch diese ultraradikalen Minister schienen sich [12] überlegt zu haben, dass sie mit einem solchen Auftrag ihre aufgeschlossene Gesinnung demonstrieren könnten, wenn sie sich, sobald es um die höheren Interessen Frankreichs ging, über das tagespolitische Niveau emporschwangen und sich damit das Verdienst erwarben, selbst vom Journal des Débats zu Staatsmännern erklärt zu werden, und dass sie letztendlich auch in den Genuss des Prestiges gelangen würden, das einem adligen Namen anhaftet, sowie auch der Aufmerksamkeit, die eine so unerwartete Wahl wie ein theatralischer Knalleffekt hervorrufen würde. Und sie wussten außerdem, dass sie die Vorteile einer Berufung des Monsieur de Norpois würden einheimsen können, ohne besorgt sein zu müssen, dass dieser es an politischer Zuverlässigkeit würde vermissen lassen, etwas, wogegen sie die Abkunft des Marquis nicht etwa auf der Hut sein lassen musste, sondern ihnen vielmehr Sicherheit gab. Und darin täuschte sich die Regierung der Republik auch nicht. Das lag vor allem daran, dass eine gewisse aristokratische Schicht, die von Kindesbeinen an dazu erzogen wird, ihren Namen als ein inhärentes Verdienst zu betrachten, das nichts und niemand ihr wegnehmen kann (und dessen Wert die Standesgenossen oder diejenigen von noch höherer Geburt genau einzuschätzen vermögen), durchaus weiß, dass sie sich, da sie nichts Zusätzliches einbringen würden, die Mühen sparen kann, die sich alle diese Bürger ohne erkennbares Resultat machen, wenn sie nur abgetragene Meinungen bekunden und nur mit Biedermännern verkehren. Auf der anderen Seite weiß diese Aristokratie, die danach strebt, sich in den Augen fürstlicher oder herzoglicher Familien, unterhalb deren sie unmittelbar angesiedelt ist, zu erhöhen, dass sie das nur kann, wenn sie ihrem Namen das hinzufügt, was er nicht enthält und was ihr die Oberhand über heraldisch gleichwertige Namen verschaffen wird: politischen Einfluss, einen literarischen oder künstlerischen Ruf, ein großes Vermögen. Und die Gelder, die sie sich hinsichtlich [13] nutzloser Krautjunker, wie sie von Bürgerlichen umworben werden, und ihrer unfruchtbaren Freundschaft, für die ein Fürst ihr keine Anerkennung zollen würde, erspart, schüttet sie lieber über Politiker aus, seien es auch Freimaurer, die zu Botschafterposten verhelfen oder bei Wahlen nützen können, über Künstler oder Wissenschaftler, bei denen die Unterstützung dazu verhilft, in die Sparte »einzudringen«, an deren Spitze sie stehen, kurzum, über alle, die in der Lage sind, eine neue Auszeichnung zu verleihen oder eine reiche Heirat zu vermitteln.

Aber in Sachen Monsieur de Norpois war es vor allem so, dass er während langer diplomatischer Tätigkeit jenen ablehnenden, eingefahrenen, konservativen Geist in sich eingesogen hatte, den sogenannten »Herrschaftsgeist«, der letztlich der aller Regierungen ist und unter allen Regierungen insbesondere der der Staatskanzleien. Er hatte während seiner Karriere Widerwillen, Misstrauen und Geringschätzung gegenüber jenen mehr oder weniger revolutionären, in jedem Falle aber mindestens inkorrekten Methoden gelernt, deren die Oppositionsparteien sich bedienen. Außer bei einigen Banausen aus dem Volk und der Gesellschaft, für die der Unterschied der Lebensstile ein leeres Wort ist, ist es nicht die Gemeinsamkeit der Meinungen, was Nähe schafft, sondern die Blutsverwandtschaft der Geister. Ein Mitglied der Akademie mit der Einstellung Legouvés und Anhänger der Klassiker hätte viel eher der Lobpreisung Victor Hugos durch Maxime Du Camp oder Mézières applaudiert als der Boileaus durch Claudel*. Ein ähnlicher Nationalismus genügt, Barrès seinen Wählern nahezubringen, die keinen großen Unterschied zwischen ihm und Monsieur Georges Berry machen dürften, aber nicht jenen seiner Kollegen in der Akademie, die zwar seine politischen Überzeugungen teilen, aber eine andere geistige Einstellung haben und ihm sogar Gegner wie die Herren Ribot und Deschanel vorziehen werden, zu denen [14] ihrerseits sich treue Monarchisten sehr viel näher fühlen als zu Maurras oder Léon Daudet*, die mittlerweile ebenfalls die Rückkehr des Königs wünschen. Nicht nur aufgrund professioneller Prägung zu Vorsicht und Zurückhaltung sparsam mit Worten, sondern weil sie mehr Wert, mehr Nuancen in den Augen von Männern haben, für die die Bemühungen von zehn Jahren um die Annäherung zweier Länder sich – in einem Gespräch, in einem Protokoll – durch ein einfaches Adjektiv, das belanglos erscheint, in dem sie jedoch eine ganze Welt erblicken, zusammenfassen und wiedergeben lassen, galt Monsieur Norpois als sehr kalt in der Kommission, wo er seinen Sitz neben meinem Vater innehatte, den ein jeder zu der Freundschaft beglückwünschte, die der ehemalige Botschafter ihm bewies. Diese überraschte meinen Vater noch mehr als alle anderen. Denn da er im allgemeinen wenig zugänglich war, war er daran gewöhnt, dass man sich außerhalb des Kreises seiner engsten Freunde nicht um seine Bekanntschaft bemühte, und gab das auch unumwunden zu. Ihm war bewusst, dass das Entgegenkommen des Diplomaten auf jenen ganz persönlichen Standpunkt zurückzuführen war, auf den sich jeder stellt, um über seine Sympathien zu entscheiden, und von dem aus die geistigen Qualitäten oder die Sensibilität einer Person, die uns lästig ist oder uns reizt, für unsereinen keineswegs eine so gute Empfehlung darstellen wie die Ungezwungenheit und Fröhlichkeit einer anderen, die in den Augen vieler als hohlköpfig, leichtsinnig und unmaßgeblich gilt. »De Norpois hat mich schon wieder zum Essen eingeladen; das ist außerordentlich; alle in der Kommission sind völlig sprachlos, wo er dort doch mit niemandem irgendwelche privaten Beziehungen unterhält. Ich bin sicher, er wird mir wieder aufregende Sachen über den Krieg von 70/71 erzählen.« Mein Vater wusste, dass Monsieur de Norpois, womöglich als einziger, den Kaiser auf die wachsende Macht und die kriegerischen Absichten Preußens hingewiesen [15] hatte und dass Bismarck besondere Hochachtung vor seinem Scharfsinn hatte. Kürzlich erst hatten wieder die Zeitungen auf das ausgedehnte Gespräch hingewiesen, das König Theodosius Monsieur de Norpois in der Oper nach der Galavorstellung für den Herrscher gewährt hatte. »Ich muss unbedingt herausfinden, ob dieser Besuch des Königs wirklich von Bedeutung war«, sagte mein Vater, der sich sehr für Außenpolitik interessierte. »Ich weiß wohl, dass der gute alte Norpois ziemlich zugeknöpft ist, aber mir gegenüber öffnet er sich ganz bereitwillig.«

In den Augen meiner Mutter wies der Botschafter vielleicht nicht jene Art von Intelligenz auf, zu der sie sich am ehesten hingezogen fühlte. Und ich muss sagen, dass die Redeweise von Monsieur de Norpois mit einem so kompletten Fundus an überalterten Formen befrachtet war, wie sie der Sprache eines Berufs, einer Schicht oder einer Zeit eigentümlich sind – einer Zeit, die für jenen Beruf und jene Schicht durchaus noch gar nicht überlebt sein mochte –, dass ich gelegentlich bedauere, mir nicht ganz schlicht und einfach die Wendungen gemerkt zu haben, die ich ihn habe gebrauchen hören. Ich hätte damit ebenso treffend und in der gleichen Weise die Wirkung des Altmodischen erzielen können wie jener Schauspieler des Palais-Royal*, den man gefragt hatte, wo er denn bloß seine erstaunlichen Hüte finde, und der darauf geantwortet hatte: »Ich finde meine Hüte nicht. Ich behalte sie.« Mit einem Wort, ich glaube, meine Mutter fand Monsieur de Norpois ein wenig »verzopft«, was ihr mitnichten missfiel, soweit es die Verhaltensformen anbetraf, sie aber auf dem Gebiet zwar nicht der Ideen – denn die von Monsieur Norpois waren ausgesprochen modern –, wohl aber der Ausdrucksweisen weniger begeisterte. Allein, sie spürte, dass sie ihrem Gatten in zarter Weise schmeicheln würde, wenn sie mit ihm voller Bewunderung von dem Diplomaten spräche, der ihn mit einer so seltenen Bevorzugung [16] auszeichnete. Indem sie so im Geist meines Vaters die gute Meinung verfestigte, die er von Monsieur de Norpois hatte, und ihn damit dazu brachte, auch eine gute Meinung von sich selbst zu haben, war sie sich bewusst, jener ihrer Pflichten zu genügen, die darin bestand, ihrem Gatten das Leben angenehm zu machen, so wie sie es auch tat, wenn sie darauf achtete, dass gepflegt gekocht und lautlos serviert wurde. Und da sie außerstande war, meinen Vater anzulügen, übte sie sich darin, den Botschafter zu bewundern, um ihn mit Aufrichtigkeit loben zu können. Außerdem hatte sie ein natürliches Wohlgefallen an seiner gütigen Miene, seiner etwas altväterlichen Höflichkeit (die derart förmlich war, dass er, wenn er mit seiner hoch aufgerichteten Gestalt dahinschritt und meiner Mutter ansichtig wurde, die im Wagen vorbeifuhr, seine kaum angerauchte Zigarre weit von sich warf, bevor er den Hut zog), seiner wohlerwogenen Konversation, bei der er so wenig wie möglich von sich selbst redete und stets berücksichtigte, was für den Gesprächspartner angenehm sein könnte, an der unglaublichen Pünktlichkeit, mit der er Briefe beantwortete, so dass mein Vater, wenn er ihm gerade einen geschickt hatte und dann die Handschrift von Monsieur de Norpois auf einem Umschlag erkannte, zuerst glaubte, dass sich ihre Korrespondenz durch eine unglückliche Fügung überkreuzt hätte: man hätte fast geglaubt, für ihn seien bei der Post zusätzliche, exklusive Leerungen eingerichtet worden. Meine Mutter geriet in Entzücken darüber, dass er so zuverlässig war, obwohl doch so beschäftigt, so liebenswürdig, obwohl doch so stark beansprucht, ohne zu bedenken, dass die »obwohl« immer verkannte »weil« sind und dass (wie auch stets die Greise erstaunlich sind für ihr Alter, die Könige ach so schlicht und die Provinzler über alles auf dem laufenden) es ebendiese Gewohnheiten waren, die es Monsieur de Norpois ermöglichten, allen diesen Anforderungen gerecht zu werden und so zuverlässig bei der Beantwortung von [17] Briefen zu sein, in der Gesellschaft zu gefallen und liebenswürdig bei uns zu sein. Zudem rührte der Irrtum meiner Mutter, wie der der meisten Personen, die zu bescheiden sind, vor allem daher, dass sie die Dinge, die sie selbst betrafen, hintanstellte und somit aus dem Bereich der anderen rückte. Wenn sie es besonders verdienstvoll von dem Freund meines Vaters fand, dass er uns den Antwortbrief umgehend geschickt hatte, wo er doch jeden Tag so viele Briefe schreiben musste, so sonderte sie diesen aus einer großen Zahl von Briefen aus, von denen er doch nur einer war; ebenso wenig kam es ihr in den Sinn, dass ein Abendessen bei uns für Monsieur de Norpois nur eine jener zahllosen Verrichtungen war, aus denen sein gesellschaftliches Leben bestand: Sie bedachte nicht, dass der Botschafter es früher während seiner diplomatischen Tätigkeit gewohnt gewesen war, Privateinladungen als Teil seiner Berufspflichten anzusehen und einen überkommenen Anstand zu entfalten, von dem es zu viel verlangt wäre zu erwarten, dass er ihn ausnahmsweise ablegte, wenn er zu uns kam.

Das erste Abendessen, das Monsieur de Norpois bei uns zu Hause einnahm, in einem Jahr, in dem ich noch in den Champs-Élysées spielte, ist mir im Gedächtnis geblieben, weil ich erstens an dem Nachmittag jenes Tages endlich in einer Matinee die Berma in Phädra* hören sollte, und außerdem, weil mir plötzlich, als ich mich mit Monsieur de Norpois unterhielt, klar wurde, wie sehr sich die Gefühle, die von allem, was Gilberte Swann und ihre Eltern betraf, in mir erweckt wurden, von jenen unterschieden, die diese selbe Familie in irgendeiner anderen Person auslöste.

Vermutlich weil sie die Niedergeschlagenheit bemerkt hatte, in die mich das Nahen der Neujahrsferien stürzte, während deren ich, wie sie selbst mir angekündigt hatte, Gilberte nicht sehen würde, sagte meine Mutter eines Tages zu mir, um mich abzulenken: »Ich glaube, wenn du immer noch so große Lust hast, die Berma zu [18] hören, dann wird dir dein Vater vielleicht erlauben hinzugehen; deine Großmutter könnte dich begleiten.«

Dies wiederum kam daher, dass Monsieur de Norpois ihm gesagt hatte, er solle mich die Berma hören lassen, denn das sei für einen jungen Menschen eine unauslöschliche Erinnerung, so dass mein Vater, bis dahin immer so sehr dagegen, dass ich meine Zeit für etwas verschwendete und dabei obendrein noch Gefahr liefe, krank zu werden, was er, zum Entsetzen meiner Großmutter, unnützes Zeug nannte, nahe daran war, diese von dem Botschafter empfohlene Veranstaltung irgendwie als Bestandteil einer Sammlung wertvoller Rezepte für die Sicherung einer glänzenden Laufbahn anzusehen. Meine Großmutter, die ein großes Opfer gebracht hatte, als sie meiner Gesundheit zuliebe auf den Gewinn verzichtete, den ich nach ihrer Auffassung daraus gezogen haben würde, die Berma zu hören, war höchst erstaunt, dass diese Gesundheit auf ein einziges Wort von Monsieur de Norpois hin vernachlässigbar geworden war. Da sie ihre unerschütterlich rationalistischen Hoffnungen in die Kur aus Bewegung an frischer Luft und zeitigem Schlafengehen setzte, die mir verordnet worden war, beklagte sie diese Übertretung, die ich begehen sollte, wie ein schweres Unglück und sagte in tiefbetrübtem Ton: »Wie leichtfertig Sie sind« zu meinem Vater, der aufgebracht antwortete: »Wie, jetzt sind Sie es, die nicht will, dass er hingeht!, das ist ja wohl ein starkes Stück, gerade Sie, die uns in einem fort vorgehalten hat, wie gut das für ihn wäre.«

Aber Monsieur de Norpois hatte in einem für mich noch viel wichtigeren Punkt eine Änderung in den Ansichten meines Vaters bewirkt. Dieser hatte immer gewünscht, dass ich Diplomat würde, aber ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass ich, selbst wenn ich einige Zeit einem Ministerium zugeordnet bliebe, doch Gefahr liefe, eines Tages als Botschafter in Hauptstädte entsandt zu [19] werden, in denen Gilberte nicht wohnen würde.