Ich hätte es vorgezogen, zu den literarischen Plänen zurückzukehren, die ich einstmals während meiner Spaziergänge auf der Seite von Guermantes geschmiedet und aufgegeben hatte. Mein Vater hatte hartnäckig dagegen opponiert, dass ich mich einer schöngeistigen Laufbahn verschreiben sollte, die er für ziemlich minderwertig gegenüber dem diplomatischen Dienst erachtete, er sprach ihr überhaupt den Namen einer Laufbahn ab, bis ihm eines Tages Monsieur de Norpois, der die diplomatischen Beamten vom neuen Schlage nicht sonderlich schätzte, versichert hatte, man könne als Schriftsteller ebenso viel Ansehen gewinnen, ebenso viel Wirkung entfalten wie in einer Botschaft und sich dabei mehr Unabhängigkeit bewahren.
»Na so etwas!, das hätte ich nicht gedacht, der gute alte Norpois hat überhaupt nichts gegen die Vorstellung, dass du dich mit Literatur befassen solltest«, hatte mein Vater zu mir gesagt. Und da er selbst ziemlichen Einfluss besaß, glaubte er, dass es nichts gebe, was man nicht arrangieren könnte, wofür sich nicht eine geeignete Lösung im Gespräch mit wichtigen Leuten finden ließe: »Ich werde ihn an einem der nächsten Abende nach der Kommissionssitzung mit nach Hause bringen. Du wirst dich dann ein wenig mit ihm unterhalten, damit er dich schätzen lernen kann. Schreib irgendwas Gutes, was du ihm zeigen kannst; er ist mit dem Herausgeber der Revue des Deux Mondes* gut bekannt, er wird dir da Zugang verschaffen, er wird das schon regeln, das ist ein alter Schlauberger; und, na ja, er scheint zu finden, dass die Diplomatie, heutzutage …!«
Die glückliche Aussicht, dass ich mich nicht von Gilberte würde trennen müssen, machte mich willens, aber nicht fähig, etwas Schönes zu schreiben, das ich Monsieur de Norpois würde vorlegen können. Nach einigen einleitenden Seiten fiel mir vor Überdruss die Feder aus der Hand, und ich heulte vor Wut bei dem [20] Gedanken, dass ich niemals das nötige Talent haben würde, dass ich unbegabt sei und nicht einmal diese Chance, für immer in Paris zu bleiben, würde nutzen können, die der bevorstehende Besuch von Monsieur de Norpois mir bot. Einzig die Vorstellung, dass man mich die Berma würde erleben lassen, lenkte mich von meinem Kummer ab. Doch so, wie ich Stürme nur an denjenigen Küsten zu sehen begehrte, an denen sie am heftigsten waren, ebenso wollte ich die große Schauspielerin nur in einer jener klassischen Rollen hören, in denen sie, wie Swann gesagt hatte, an das Erhabene rührte. Denn wenn wir in der Hoffnung auf eine kostbare Entdeckung bestimmte Erfahrungen mit der Natur oder der Kunst herbeisehnen, so haben wir zugleich gewisse Bedenken, unsere Seele stattdessen mindere Eindrücke aufnehmen zu lassen, die uns über den genauen Wert des Schönen täuschen könnten. Die Berma in Andromache, in Die launische Marianne*, in Phädra, das waren die berühmten Aufführungen, nach denen sich meine Phantasie so sehr gesehnt hatte. Ich würde das gleiche Entzücken verspüren wie an dem Tag, an dem mich eine Gondel vor den Tizian der Frarikirche oder die Carpaccios* von San Giorgio dei Schiavoni* führen würde, wenn ich erst einmal die Berma die Verse rezitieren gehört hätte:
Man sagt, ein eil’ger Abschied will Euch uns entrücken,
Herr, usw.*
Ich kannte sie in der simplen Schwarzweißwiedergabe der gedruckten Ausgaben; aber mein Herz schlug wie beim Antritt einer Reise bei dem Gedanken, dass ich sie zu guter Letzt wahrhaftig von der Atemluft und dem Sonnenglanz der goldenen Stimme umschmeichelt sehen würde. Ein Carpaccio in Venedig, die Berma in Phädra, das waren derartige Meisterwerke der bildenden und der dramatischen Kunst, dass der ihnen anhaftende Ruhm in mir so [21] lebhaft, und das heißt so unteilbar, gegenwärtig war, dass ich, hätte ich einen Carpaccio in einem Saal des Louvre* oder die Berma in einem Stück gesehen, von dem ich noch niemals gehört hatte, nicht das gleiche köstliche Staunen erlebt hätte, nun endlich mit geöffneten Augen vor dem unfassbaren, einzigartigen Gegenstand so vieler Tausend meiner Träume zu stehen. Da ich zudem vom Spiel der Berma Erleuchtungen über gewisse Aspekte der edlen Gesinnung, des Leidens erwartete, meinte ich, dass das, was an Großem und Wirklichem in ihrem Spiel lag, deutlicher würde, wenn die Schauspielerin es einem Werk von wahrhaftem Wert aufprägte, statt letztlich in eine mittelmäßige und gewöhnliche Grundlage das Wahre und Schöne hineinzuweben.
Schließlich wäre es mir, wenn ich die Berma in einem neuen Stück gehört hätte, nicht leichtgefallen, mir ein Urteil über ihre Kunst, ihren Vortrag zu bilden, weil ich bei einem Text, den ich nicht im voraus kannte, nicht hätte unterscheiden können zwischen ihm und all dem, was sie an Tonfällen und Gesten hinzufügte, die mir dann als ein Bestandteil davon erschienen wären; während mir dagegen die alten Stücke, die ich auswendig kannte, wie weite, reservierte und vorbereitete Räume vorkamen, in denen ich in völliger Freiheit die Gestaltungskraft der Berma würde genießen können, dank deren sie sie wie eine Freskenmalerei mit den immer neuen Funden ihrer Eingebung ausfüllen würde. Unglücklicherweise spielte sie seit Jahren, nachdem sie die großen Bühnen verlassen und als großer Star eines Boulevardtheaters dessen Glück gemacht hatte, keine klassischen Rollen mehr, und ich mochte noch so oft die Plakate durchsehen, sie kündigten immer nur ganz neue Stücke an, die für sie von Modeautoren auf die Schnelle fabriziert wurden; bis ich eines Morgens, als ich auf der Anschlagsäule der Theater nach den Matineen der Neujahrswoche suchte, dort zum ersten Mal – zum Ende einer Aufführung, nach einem [22] vermutlich belanglosen Aufwärmer*, dessen Titel mir undurchsichtig erschien, weil er sich auf eine ganz spezifische Handlung bezog, die ich nicht kannte – zwei Akte aus Phädra mit Madame Berma angekündigt sah und für die folgenden Matineen Die Halbwelt*, Die launische Marianne, Namen, die, wie Phädra, für mich transparent waren, ausschließlich von Klarheit erfüllt, so wohl war mir das Werk vertraut, bis in den Grund erleuchtet von einem Lächeln der Kunst. Als ich in der Zeitung unter dem Programm für diese Aufführungen las, dass Madame Berma sich aus eigenem Antrieb entschlossen habe, sich dem Publikum von neuem in einigen ihrer früheren Schöpfungen zu stellen, schien ihr dies noch höheren Adel zu verleihen. Demnach wusste die Künstlerin, dass manche Rollen von einem Interesse sind, das den Neuigkeitswert ihrer Erstinszenierung oder den Erfolg ihrer Wiederaufnahme überlebt, sie betrachtete sie, von ihr interpretiert, wie Meisterwerke in einem Museum, deren erneute Präsentation für die Generation, die sie darin bewundert hatte, oder für jene, die sie darin noch nicht gesehen hatte, lehrreich sein könnte. Indem sie so, mitten unter Stücken, die nur dazu dienten, einen Abend lang die Zeit zu vertreiben, Phädra ankündigen ließ, dessen Titel nicht länger war als die Titel jener und auch in den gleichen Lettern gedruckt war, hatte sie ihm die wortlose Andeutung hinzugefügt, mit der eine Gastgeberin, wenn sie jemandem beim Gang zu Tisch ihre anderen Gäste vorstellt, inmitten der Namen der Geladenen, die sonst weiter nichts sind als Geladene, in dem gleichen Ton, mit dem sie die anderen erwähnt hatte, sagt: »Monsieur Anatole France«.
Der Arzt, der mich behandelte – jener, der mir jegliche Reise verboten hatte –, riet meinen Eltern davon ab, mich ins Theater gehen zu lassen; ich würde davon wieder krank werden, womöglich für lange Zeit, und ich würde am Ende mehr Leiden als Vergnügen davontragen. Diese Besorgnis hätte mich bremsen können, wenn [23] ich erwartet hätte, dass eine solche Aufführung lediglich ein Vergnügen bereiten würde, das insgesamt durch ein nachfolgendes Leiden im Wege der Verrechnung wieder aufgehoben werden könnte. Aber was ich mir – wie auch von der Reise nach Balbec*, der Reise nach Venedig, die ich mir so sehr gewünscht hatte – von dieser Matinee erwartete, war etwas ganz anderes als ein Vergnügen: Vielmehr Wahrheiten, die einer wirklicheren Welt angehörten als der, in der ich lebte, und die mir, einmal angeeignet, nicht durch Nebensächlichkeiten, seien diese auch schmerzlich für meinen Körper, aus meinem müßigen Dasein entrissen werden könnten. Allenfalls erschien mir das Vergnügen, das ich während der Darbietung erleben würde, als die möglicherweise notwendige Form der Wahrnehmung dieser Wahrheiten; und das war ausreichend für mich, um zu wünschen, die vorausgesagten Leiden möchten erst beginnen, nachdem die Darbietung beendet wäre, auf dass diese nicht durch jene beeinträchtigt und entwertet werde. Ich flehte meine Eltern an, die mir seit dem Besuch des Arztes nicht mehr erlauben wollten, in Phädra zu gehen. Ich sagte mir unablässig die Stelle auf:
Man sagt, ein eil’ger Abschied will Euch uns entrücken …
und probierte alle Betonungen aus, die man ihr nur geben konnte, um desto besser das Unerwartete jener ermessen zu können, die die Berma finden würde. Wie das Allerheiligste unter dem Vorhang geborgen, der sie meinen Blicken entzog und hinter dem ich sie jeden Augenblick mit einer neuen Seite ausstattete – getreu den Worten Bergottes aus der Broschüre, die Gilberte mir besorgt hatte, und die mir jetzt wieder in den Sinn kamen: »Skulpturierter Adel, christliches Büßergewand, jansenistische* Blässe, Prinzessin von Troizen und von Kleve*, mykenisches Drama, delphisches [24] Symbol, Sonnenmythos«* –, thronte die göttliche Schönheit, die mir das Spiel der Berma offenbaren würde, Tag und Nacht auf einem immerwährend brennenden Altar am Grunde meines Geistes, meines Geistes, von dem meine strengen und leichtfertigen Eltern entscheiden würden, ob er für alle Zeiten die Vollkommenheiten der entschleierten Göttin an jener Stätte in sich schließen würde, an der sich ihre unsichtbare Gestalt erhob, oder ob nicht. Und die Augen auf das unfassliche Bild gebannt, kämpfte ich vom Morgen bis zum Abend gegen die Hindernisse, die mir meine Familie entgegenstellte. Doch als sie gefallen waren, als meine Mutter – obwohl diese Matinee genau am Tag jener Kommissionssitzung stattfand, nach der mein Vater Monsieur de Norpois zum Essen mitbringen sollte – zu mir gesagt hatte: »Na gut, wir wollen dir keinen Kummer bereiten, wenn du glaubst, dass du daran so viel Vergnügen haben wirst, dann geh hin«, als dieser zuvor verbotene Tag im Theater nur noch von mir abhing, als ich mich nun nicht mehr damit zu beschäftigen hatte, dass er aufhören möge, unmöglich zu sein, fragte ich mich zum ersten Mal, ob er wirklich so erstrebenswert war, ob nicht andere Gründe als das Verbot meiner Eltern mich hätten veranlassen sollen, darauf zu verzichten. Vor allem machte sie mir ihre Zustimmung, nachdem ich zuvor ihre Grausamkeit verwünscht hatte, so lieb und teuer, dass die Vorstellung, ihnen Schmerz zu bereiten, mir selbst einen solchen bereitete, dass mir dadurch der Sinn des Lebens nicht mehr in der Wahrheit zu liegen schien, sondern in der Zuneigung, und es mir einzig noch insoweit gut oder schlecht vorkam, als meine Eltern glücklich oder unglücklich sein würden. »Ich würde lieber nicht hingehen, wenn euch das Sorgen macht«, sagte ich zu meiner Mutter, die sich, ganz im Gegenteil, bemühte, mein Bedenken zu zerstreuen, dass sie deswegen traurig sein könnte, welches, wie sie sagte, das Vergnügen vergällen würde, das ich an Phädra haben würde, um [25] dessen willen sie und mein Vater von ihrem Verbot abgerückt waren. Doch nun erschien mir gewissermaßen diese Verpflichtung, Vergnügen zu haben, recht bedrückend. Zudem, wenn ich krank nach Hause käme, würde ich dann schnell genug wieder gesund werden, um nach Ende der Ferien in die Champs-Élysées gehen zu können, sobald Gilberte dorthin zurückkehren würde? Allen diesen Überlegungen stellte ich, um entscheiden zu können, welche den Sieg davontragen sollte, die Idee, unsichtbar hinter ihrem Schleier, der Vollendung der Berma gegenüber. Ich legte in eine der Waagschalen »spüren, dass Maman traurig ist; riskieren, nicht in die Champs-Élysées gehen zu können«, in die andere »jansenistische Blässe, Sonnenmythos«; aber diese Worte selbst verschwammen schließlich vor meinem Geist, sagten mir nichts mehr, verloren alles Gewicht; nach und nach wurden meine Zweifel so quälend, dass ich, wenn ich mich nun fürs Theater entschieden hätte, dies nur geschehen wäre, um ihnen ein Ende zu machen und ein für alle Mal von ihnen befreit zu sein.
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