Ein langer, langer, tiefer Atemzug ging durch die Kammer. Von wem? Sie warteten, daß die Mutter noch etwas sagen werde – vergebens! Sie hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht.

Da legte der Vater das Blatt zur Seite, beugte sich über die gute Schwiegermutter nieder, betrachtete sie einige Augenblicke lang und sagte dann leise: „Sie ist auch heim.“

Und die Kleinste von den Kindern hielt ihr kleines Mündchen an das Ohr des Schwesterchens und flüsterte:

„Sie ist auch heim!“

Weiter wurde kein Wort gesprochen. Die Tochter drückte der Mutter die Augen zu, legte dann ein kleines Weilchen ihren Kopf an die Brust des Mannes und sagte dann, tief und schmerzlich aufatmend: „Wir wollen weiterarbeiten!“

Der Vater erhob gegen die Kinder warnend den Zeigefinger und meinte:

„Die Großmutter ist nun ganz, ganz eingeschlafen. Ihr dürft sie nicht stören. Legt euch hin und schlaft recht schön und ruhig!“

Die Kinder gehorchten, und die Eltern traten in die Stube zurück, wo sie sich zur Arbeit niedersetzten. Der Griffel und die Stricknadeln bewegten sich fleißig bis nach Mitternacht, ohne daß die Fleißigen ein Wort gesprochen hätten. Dann aber brach die Frau doch endlich das tiefe Schweigen:

„Ist dir es nicht zu kalt?“

„Nein. Dir?“

„Auch nicht.“

Und dennoch froren sie beide. Die Frau warf einen wehmütigen Blick nach dem Ofen. Dort lagen vier oder fünf Holzscheitchen neben ebensoviel Handvoll Kohlen. Das war Heizmaterial für den morgigen Tag.

„Was tun wir nun?“ meinte sie.

„Melden“, antwortete er, ohne von der Arbeit aufzusehen. Er mußte die Versäumnis nachholen.

„Ja. Ich meine aber nicht das.“

„Was denn?“

„Sarg, Begräbniskosten!“

Er neigte den Kopf noch tiefer auf die Platte herab, antwortete aber nicht.

„Und was ziehen wir ihr an!“ flüsterte sie weiter, mehr für sich als für ihn.

„Das schwarze Kleid.“

„Das ist zu gut!“

„Sie hat ja weiter nichts!“

„Da begnügt sie sich mit einem alten Rock und meiner braunen Alltagsjacke.“

„Nein.“

Sie warf einen erstaunt fragenden Blick zu ihm hinüber.

„Was denn?“

„Ihr schwarzes Kleid.“

„Aber es ist schade darum! Ich kann den Kindern zwei Röckchen und ein Jäckchen daraus machen!“

„Es ist ihr Hochzeitskleid gewesen. Sie soll es behalten. Sie hat uns liebgehabt. Ich schämte mich, wenn ich sie so ganz ärmlich fortschicken sollte.“

Da richtete die Frau einen langen, dankbaren, innigen Blick auf den Mann und flüsterte: „Du Guter!“

Wieder verging eine Zeit. Da begann dieses Mal der Mann das kurze Gespräch:

„Wann wirst du fertig?“

„Heute abend.“

„Bekommst du da Geld?“

„Zwei Gulden! Und du?“

„Ich werde früh fertig. Vielleicht erhalte ich auch etwas.“

„Was ist es denn, was du jetzt fertigst?“

Er senkte den Kopf so tief herab, daß die Stirn fast die auf dem Tisch liegende Platte berührte, und antwortete leise:

„Ein Titelkopf für ein Wochenblatt.“

„Darum ist es so lang und schmal. Wieviel wirst du dafür bekommen?“

„Hm! Jetzt vielleicht gar nichts! Es wird erst später ganz fertig. Ich kann jetzt nur Teil um Teil fertig machen.“

„Könnten sie dir denn da nicht auch Teil um Teil so nach und nach bezahlen?“

„Das wollen diese Leute nicht.“

„Herr Jesus! Was fangen wir da an! Ich habe nur noch zwei Kreuzer, und die brauche ich zu Milch für die Kinder. Wieviel hast du noch?“

„Gar nichts. Ich habe dir gestern mein Letztes gegeben.“

„Da mag Gott helfen!“

„Hätten wir doch etwas zu verkaufen oder ins Leihhaus zu schaffen!“

Sie blickte, vorsichtig forschend, zu ihm hinüber und sagte dann mit unsicherer Stimme:

„Oder wir sollten in der Lotterie gewinnen!“

Er schüttelte trübe lächelnd den Kopf und antwortete:

„Das dürfen wir uns nicht einbilden. Wir haben weder Glück noch Stern. Es war eine richtige Vermessenheit, daß wir die fünf Gulden für das Los ausgaben. Wir hätten zwei Wochen dafür leben können!“

„Aber die schöne Hoffnung!“

„Sie nützt nichts.“

„Ich sollte es eigentlich nicht sagen; aber weißt du, was die Mutter vorhin noch sagte, als du in die Stube zurückgingst?“

„Was?“

„Sie hätte dich nicht an das Los erinnern wollen. Zu mir aber sagte sie, daß sie gleich, wenn sie heute in den Himmel komme, den lieben Gott bitten wolle, uns auf das Los hundert Gulden gewinnen zu lassen.“

„Das ist Sünde!“

„Oh, der liebe Gott weiß, wie sie es meint.“

„Er weiß es auch ohne sie, daß wir arm sind.“

Er tauchte einen Lappen ins Wasser und band sich ihn auf die brennenden Augen, um die Schmerzen zu kühlen.

Er saß einige Minuten frierend da. Seine auf dem Tisch liegende Hand berührte die Platte. Da faltete er die Hände und murmelte leise:

„Herrgott, vergib mir es! Ich weiß, daß ich in kurzer Zeit blind sein werde, und muß doch für die Meinigen sorgen. Es ist eine Sünde, ein Unrecht. Ich will es auf mich nehmen, ganz auf mich allein.