Crisp wurde aus Buxton3 herbeigeholt und entfernte ihren geliebten Sohn schleunigst; schon der bloße Gedanke an einen solchen Adler im Chiswicker Taubenschlag verursachte im Busen von Miss Pinkerton einen gewaltigen Aufruhr, und sie hätte Miss Sharp weggeschickt, wenn sie nicht gezwungen gewesen wäre, dann eine Kontraktstrafe zu zahlen. Nie glaubte sie den Beteuerungen der jungen Dame, die versicherte, mit Mr. Crisp nur im Beisein der Vorsteherin beim Tee gesprochen zu haben.

Neben den vielen hochgewachsenen und kräftigen jungen Damen in der Schule wirkte Rebekka Sharp wie ein Kind. Aber sie hatte die traurige Frühreife der Armut. Manchen ungeduldigen Gläubiger hatte sie von der Tür ihres Vaters weggeplaudert; manchen Kaufmann hatte sie in gute Stimmung geschwatzt und ihm ein weiteres Mal das tägliche Brot abgeschmeichelt. Gewöhnlich saß sie bei ihrem Vater, der auf ihren Mutterwitz sehr stolz war, und hörte die Reden seiner zügellosen Kumpane mit an, die oft für Mädchenohren wenig geeignet waren. Wie sie selbst sagte, war sie jedoch nie ein Kind gewesen; schon mit acht Jahren war sie ein Weib. Warum nur ließ Miss Pinkerton einen so gefährlichen Vogel in ihren Käfig hinein!

Tatsächlich hielt die alte Dame Rebekka für das sanftmütigste Geschöpf der Welt, denn wenn ihr Vater sie mit nach Chiswick nahm, pflegte sie die Rolle der ingénue4 so vollendet zu spielen, daß Miss Pinkerton meinte, sie sei ein bescheidenes und unschuldiges Kind, und ein Jahr noch vor dem Abkommen über Rebekkas Aufnahme im Hause – das Mädchen war damals sechzehn Jahre alt – überreichte ihr Miss Pinkerton majestätisch mit einer kleinen Ansprache eine Puppe als Geschenk, eine Puppe, die, nebenbei erwähnt, Miss Swindle gehört hatte und ihr weggenommen worden war, als man sie ertappte, wie sie heimlich während des Unterrichts damit spielte.

Wie lachten Vater und Tochter, als sie nach der Abendgesellschaft zusammen nach Hause wanderten (es war bei Gelegenheit der Jahresschlußfeier, zu der alle Lehrer eingeladen wurden), und wie wütend wäre Miss Pinkerton geworden, hätte sie die Karikatur gesehen, die Rebekka, die kleine Schauspielerin, von ihr aus der Puppe machte! Sie pflegte mit der Puppe Gespräche zu führen, die die Newman Street, die Gerrard Street5 und das ganze Künstlerviertel begeisterten. Wenn die jungen Maler kamen, um mit ihrem faulen, liederlichen, gewandten, lustigen älteren Kollegen Grog zu trinken, so fragten sie Rebekka regelmäßig, ob Miss Pinkerton zu Hause sei; sie kannten die arme Seele so gut wie Mr. Lawrence6 oder Präsident West7. Einst hatte sie die Ehre, einige Tage in Chiswick zu verbringen; sie kam mit der Idee zurück, eine andere Puppe zur Miss Jemmy zu ernennen; denn obgleich das ehrliche Geschöpf Jemima sie mit Gelee und Kuchen für drei Kinder vollgestopft und ihr beim Abschied sogar noch ein Siebenshillingstück geschenkt hatte, so war doch der Sinn fürs Lächerliche bei dem Mädchen weitaus stärker als die Dankbarkeit, und Miss Jemmy wurde ebenso unbarmherzig geopfert wie ihre Schwester.

Die Katastrophe kam, als Rebekka in ihre neue Heimat, die Mall, gebracht wurde. Die strenge Förmlichkeit des Hauses erstickte sie: die Gebete und die Mahlzeiten, die Unterrichtsstunden und die Spaziergänge, alles in klösterlicher Regelmäßigkeit, lasteten beinahe unerträglich auf ihr, und sie vermißte die freie Bettelarmut des alten Ateliers in Soho so sehr, daß jeder, auch sie selbst, glaubte, der Kummer um den Vater verzehre sie. Sie hatte ein kleines Zimmerchen unter dem Dach, wo die Dienstmädchen sie nachts schluchzend auf und ab gehen hörten; allein das geschah vor Wut und nicht vor Kummer. Bisher hatte Heuchelei ihr ferngelegen; nun, in ihrer Einsamkeit, lernte sie, sich zu verstellen. Nie war sie in weiblicher Gesellschaft gewesen; ihr Vater war trotz aller seiner Laster ein begabter Mann; sie zog seine Unterhaltung tausendmal dem Geschwätz ihrer Geschlechtsgenossinnen vor, mit denen sie jetzt zusammenkam. Die eitle Wichtigtuerei der alten Schulvorsteherin, die törichte Gutmütigkeit ihrer Schwester, das dumme Geschwätz und die Klatschsucht der größeren Schülerinnen und die kalte Korrektheit der Erzieherinnen ermüdeten sie; und das unglückselige Geschöpf besaß kein sanftes, mütterliches Herz, um sich von dem Geplappere und Geplaudere der kleineren Mädchen, die sie hauptsächlich zu betreuen hatte, besänftigen und einnehmen zu lassen. Zwei Jahre lebte sie unter ihnen, und keine trauerte ihr nach, als sie ging. Die sanfte, gütige Amelia Sedley war die einzige, der sie sich einigermaßen angeschlossen hatte; und wer fühlte sich nicht zu Amelia hingezogen?

Das Glück – die überlegene Stellung der jungen Damen um sie her erfüllten Rebekka mit unaussprechlichem Neid. »Wie vornehm sich doch dieses Mädchen aufspielt, bloß weil sie die Enkelin eines Grafen ist«, sagte sie von der einen. »Wie sie doch vor der Kreolin und ihren hunderttausend Pfund kriechen! Ich bin tausendmal gescheiter und hübscher als dieses Geschöpf mit all seinem Reichtum. Ich bin ebenso gut erzogen wie die Grafenenkelin, trotz ihres vornehmen Stammbaumes; und doch beachtet mich hier niemand. Aber gaben nicht, als ich noch bei meinem Vater lebte, die Männer ihre lustigsten Bälle und Gesellschaften auf, um den Abend mit mir zu verbringen?« Sie beschloß, sich auf jeden Fall aus dem Gefängnis zu befreien, in dem sie sich befand, und begann nun, selbständig zu handeln und zum erstenmal in ihrem Leben zusammenhängende Zukunftspläne zu schmieden.

Sie nutzte daher die Bildungsmöglichkeiten, welche das Haus ihr bot; und da sie gute Begabung für Musik und Sprachen zeigte, so hatte sie in kurzer Zeit das kleine Wissensgebiet durchstreift, dessen Kenntnis man bei einer Dame jener Tage für nötig hielt. Sie übte sich sehr fleißig in der Musik, und eines Tages, als die Mädchen ausgegangen waren und sie zu Hause geblieben war, hörte die Minerva sie ein Stück so gut spielen, daß sie weise überlegte, sie könne sich die Kosten eines Musiklehrers für die kleineren Mädchen sparen, und sie gab Miss Sharp zu verstehen, daß sie künftig Musikunterricht zu erteilen habe.

Zum ersten Male und zum größten Erstaunen der majestätischen Vorsteherin weigerte sich das Mädchen. »Ich bin hier, um mit den Kindern französisch zu sprechen«, sagte Rebekka kurz, »und nicht um Musikunterricht zu geben, damit Sie Geld sparen. Bezahlen Sie es mir, dann werde ich sie unterrichten.«

Die Minerva mußte klein beigeben und fand sie natürlich von dem Tage an unausstehlich. »Fünfunddreißig Jahre lang«, sagte sie mit einiger Berechtigung, »habe ich keinen Menschen erlebt, der gewagt hätte, in meinem Hause meine Autorität in Frage zu stellen. Ich habe eine Schlange an meinem Busen genährt.«

»Eine Schlange – Quatsch«, antwortete Miss Sharp der alten Dame, die vor Erstaunen fast in Ohnmacht fiel. »Sie haben mich aufgenommen, weil ich Ihnen nützlich war. Zwischen uns kann von Dankbarkeit keine Rede sein. Ich hasse diesen Ort und möchte gern weg von hier.