Ich tue nur das, wozu ich verpflichtet bin, nicht mehr.«
Vergebens fragte die alte Dame, ob sie denn auch wisse, daß sie mit Miss Pinkerton spreche. Rebekka lachte ihr nur ins Gesicht, ein so schreckliches, sarkastisches, teuflisches Lachen, daß die Schulvorsteherin beinahe in Krämpfe fiel. »Geben Sie mir Geld«, sagte das Mädchen, »und Sie werden mich los – oder besorgen Sie mir, wenn Ihnen das lieber ist, eine Stelle als Erzieherin in einer adligen Familie – Sie können es, wenn Sie wollen.« Und in ihren späteren Auseinandersetzungen kam sie immer wieder auf diesen Punkt zurück. »Verschaffen Sie mir eine Stelle – wir können einander nicht ausstehen, und ich bin bereit zu gehen.«
Die würdige Miss Pinkerton besaß zwar eine römische Nase und einen Turban und war, von Gestalt ein Grenadier, bis zu diesem Tage eine alles bezwingende Fürstin gewesen, mit dem Willen und der Stärke ihres kleinen Lehrlings konnte sie es jedoch nicht aufnehmen. Sie kämpfte und bemühte sich vergeblich, das Mädchen einzuschüchtern. Bei dem Versuch, sie einmal öffentlich zu schelten, kam Rebekka auf die bereits erwähnte Idee, ihr auf französisch zu antworten, was die alte Frau ganz und gar aus der Fassung brachte. Um ihre Autorität in der Schule zu wahren, erwies es sich als notwendig, diese Rebellin, dieses Ungeheuer, diese Schlange, diesen Feuerbrand zu entfernen; und da sie gerade hörte, daß Sir Pitt Crawleys Familie eine Gouvernante brauchte, empfahl sie – trotz Feuerbrand und Schlange – Miss Sharp für die Stelle.
»Ich kann«, sagte sie, »Miss Sharps Betragen bestimmt nicht tadeln, wenn ich ihr Benehmen gegen mich selbst ausnehme; und ich muß zugeben, daß ihre Talente und Kenntnisse hervorragend sind. Zumindest was den Kopf betrifft, macht sie dem Erziehungssystem in meiner Schule alle Ehre.«
Auf diese Weise brachte die Vorsteherin die Empfehlung mit ihrem Gewissen in Einklang; der Kontrakt wurde gelöst, und der Lehrling war frei. Der Kampf, hier in wenigen Zeilen beschrieben, dauerte natürlich einige Monate. Und da Miss Sedley, die nun siebzehn Jahre alt war und die Schule verlassen sollte, mit Miss Sharp befreundet war (»Dies ist der einzige Punkt in Amelias Betragen«, meinte Minerva, »der ihrer Lehrerin mißfallen hat«), so wurde Miss Sharp von ihrer Freundin eingeladen, eine Woche bei ihr zu Hause zu verbringen, ehe sie ihre Stelle als Erzieherin in einem Privathaushalt antrat.
So begann das Leben für die beiden jungen Damen. Für Amelia war es ganz neu, frisch und glänzend, in all seiner Schönheit. Nicht ganz so neu war es für Rebekka – denn in der Tat, um die Wahrheit über die Crisp-Affäre zu sagen, hatte die Kuchenfrau jemandem, der es wieder unter Eid weitererzählte, angedeutet, daß zwischen Mr. Crisp und Miss Sharp eine ganze Menge mehr vorgekommen sei, als an die Öffentlichkeit gedrungen war, und daß sein Brief nur eine Antwort auf einen andern gewesen sei. Wer vermag aber zu sagen, wie die Sache sich wirklich verhielt? Wenn das Leben für Rebekka nun auch nicht direkt begann, so begann sie es doch wieder einmal von vorn.
Als die jungen Damen den Schlagbaum auf der Kensingtoner Chaussee erreichten, hatte Amelia ihre Gefährtinnen zwar nicht vergessen, aber doch ihre Tränen getrocknet, und sie errötete heftig und war entzückt, als ein junger Offizier der Leibgarde sie im Vorbeireiten erspähte und sagte: »Bei Gott, ein verdammt schönes Mädchen!« Und ehe noch der Wagen am Russell Square anlangte, hatten sie viel über die Vorstellung bei Hofe geplaudert, und ob junge Damen sich bei solchem Anlaß wohl puderten und Reifröcke trügen, und ob Amelia dieser Ehre wohl teilhaftig werden würde; daß sie auf jeden Fall den Ball beim Lord Mayor erleben sollte, wußte sie. Als man nun endlich zu Hause angekommen war, hüpfte Miss Amelia Sedley an Sambos Arm heraus, ein so glückliches und hübsches Mädchen wie kaum ein anderes in dem ganzen großen London. In diesem Punkte war Sambo ganz der Ansicht des Kutschers, ihr Vater war darüber einig mit der Mutter, und so dachten alle Dienstboten des Hauses, die lächelnd in der Vorhalle standen und ihre junge Herrin mit Verbeugungen und Knicksen begrüßten.
Man kann versichert sein, daß Amelia Rebekka jedes Zimmer im Hause zeigte und alle ihre Schubfächer, Bücher, das Klavier, ihre Kleider, Halsketten, Broschen, Spitzen und allerlei andere Kleinigkeiten. Rebekka mußte unbedingt den weißen Karneolschmuck und die Türkisohrringe sowie ein wunderhübsches geblümtes Musselinkleid annehmen, das sie ausgewachsen hatte, das ihrer Freundin aber wie angegossen passen mußte; und sie beschloß im Innern, die Mutter um Erlaubnis zu bitten, der Freundin ihren weißen Kaschmirschal schenken zu dürfen. Konnte sie ihn denn nicht entbehren, zumal ihr Bruder Joseph ihr soeben zwei aus Indien mitgebracht hatte?
Als Rebekka die zwei prächtigen Kaschmirschals sah, die Joseph Sedley seiner Schwester mitgebracht hatte, sagte sie ganz aufrichtig, »daß es herrlich sein müsse, einen Bruder zu haben«, und weckte damit sehr leicht das Mitleid der gütigen Amelia für die arme Waise, die ohne Angehörige, freundlos und allein in der Welt stand.
»Du bist nicht allein«, sagte Amelia, »du weißt, Rebekka, ich werde stets deine Freundin sein und dich wie eine Schwester lieben – ganz bestimmt.«
»Ach, hätte ich doch Eltern, wie du – gute, reiche, liebevolle Eltern, die einem jeden Wunsch erfüllen und einen mit ihrer Liebe umgeben, dem Kostbarsten, was es gibt. Mein armer Papa konnte mir nichts schenken, und ich besaß auf der ganzen Welt nur zwei Kittel! Und dann noch einen Bruder zu haben, einen lieben Bruder! Oh, wie mußt du ihn liebhaben!«
Amelia lachte.
»Wie? Hast du ihn etwa nicht lieb? Wo du doch immer sagst, du liebst alle Menschen?«
»Ja, natürlich, ich habe ihn lieb, nur ...«
»Nur was?«
»Nur scheint Joseph sich nicht viel darum zu kümmern, ob ich ihn liebhabe oder nicht. Als er nach zehnjähriger Abwesenheit kam, reichte er mir zwei Finger! Er ist freundlich und gut, aber er spricht selten mit mir; ich glaube, er liebt seine Pfeife viel mehr als seine ...« Aber hier stockte Amelia, denn warum sollte sie schlecht von ihrem Bruder sprechen? »Er war sehr freundlich zu mir, als ich klein war«, setzte sie hinzu; »ich war erst fünf Jahre alt, als er wegging.«
»Ist er nicht sehr reich?« fragte Rebekka. »Alle indischen Nabobs sollen doch ungeheuer reich sein.«
»Ich glaube, er hat ein sehr großes Einkommen.«
»Und ist deine Schwägerin eine nette, hübsche Frau?«
»Hach, Joseph ist doch gar nicht verheiratet«, rief Amelia und lachte abermals.
Möglicherweise hatte sie es Rebekka schon einmal erzählt, aber die junge Dame schien es wieder vergessen zu haben; sie beteuerte eifrig, sie habe erwartet, eine Anzahl Neffen und Nichten von Amelia zu sehen. Sie sei ganz enttäuscht, Mr. Sedley unverheiratet zu finden; sie sei überzeugt, Amelia habe ihr erzählt, er sei verheiratet, und sie sei so vernarrt in kleine Kinder.
»Ich dachte, du hättest in Chiswick genug davon gehabt«, sagte Amelia, etwas verwundert über das plötzliche Interesse ihrer Freundin. In späteren Tagen hätte Miss Sharp sich niemals darauf eingelassen, Meinungen zu äußern, deren Unwahrheit so leicht aufzudecken war, allein wir dürfen nicht vergessen, daß das arme unschuldige Geschöpf erst neunzehn Jahre alt, daß sie in der Kunst, sich zu verstellen, noch wenig bewandert war, erst Erfahrungen sammeln mußte. Die obigen Fragen in der Sprache des Innern dieses scharfsinnigen jungen Mädchens übersetzt, bedeuteten einfach folgendes: Wenn Mr. Joseph Sedley reich und unverheiratet ist, warum sollte ich ihn dann nicht heiraten? Ich habe zwar nur vierzehn Tage vor mir, aber es kann ja nichts schaden, wenn ich es versuche.
Sie beschloß im Innern, diesen lobenswerten Versuch zu unternehmen. Sie verdoppelte ihre Zärtlichkeit gegenüber Amelia; sie küßte das Halsband mit dem weißen Karneol, als sie es anlegte, und beteuerte, sie werde sich nie, nie davon trennen. Als die Tischglocke erklang, ging sie, wie junge Mädchen zu gehen pflegen, den Arm um die Taille ihrer Freundin geschlungen, die Treppe hinab. Als sie an der Tür des Gesellschaftszimmers anlangten, war sie so aufgeregt, daß sie kaum Mut fassen konnte einzutreten. »Fühl mal, wie mein Herz klopft, meine Liebe«, sagte sie zu ihrer Freundin.
»Ach wo«, meinte Amelia, »komm mit herein und fürchte dich nicht.
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