Er muß jetzt nur schlau sein.

Dabei fällt Borkhausen ein, daß er noch vor der Nacht einen gewissen Enno finden muß. Enno ist vielleicht der richtige Mann für so was. Aber keine Angst, den Enno findet er schon. Der macht täglich seine Runde durch nur drei oder vier Lokale, wo die kleinen Rennwetter verkehren. Wie dieser Enno wirklich heißt, das weiß Borkhausen nicht. Er kennt ihn nur aus den paar Lokalen, wo ihn alle Enno rufen. Er wird ihn schon finden, und er wird vielleicht sogar der richtige Mann sein.

Trudel Baumann verrät ein Geheimnis

So leicht Otto Quangel auch in die Fabrik gekommen war, so schwer war es zu erreichen, daß die Trudel Baumann zu ihm herausgerufen wurde. Sie arbeiteten hier nämlich

- übrigens genau wie in Quangels Fabrik - nicht nur im Akkord, sondern jede Arbeitsstube mußte auch ein bestimmtes Pensum schaffen, da kam es oft auf jede Minute an.

Aber schließlich kommt Quangel doch zum Ziel, schließlich ist der andere genauso ein Werkmeister wie er selbst. Man kann einem Kollegen so was schlecht abschlagen, besonders wenn grade der Sohn gefallen ist. Das hat Quangel nun doch sagen müssen, bloß um die Trudel zu sehen zu kriegen. Daraus folgt, daß er's ihr auch selber sagen muß, gegen die Bitte der Frau, sonst würde es ihr der Werkmeister erzählen. Hoffentlich gibt's kein Geschrei und vor allem keine Umfallerei. Eigentlich ein Wunder, wie die Anna sich gehalten hat - nun, die Trudel steht auch auf festen Beinen.

Da kommt sie endlich, und Quangel, der nie ein anderes

Verhältnis als das zu seiner Frau gehabt hat, muß sich gestehen, daß sie reizend aussieht mit ihrem Wuschelkopf dunkler, plustriger Haare, dem runden Gesicht, dem keine Fabrikarbeit die frischen Farben hat nehmen können, mit den lachenden Augen und der hohen Brust. Selbst jetzt, wo sie wegen der Arbeit lange blaue Hosen trägt und einen alten, vielfach gestopften Jumper, der voll von Garn-resten hängt, selbst jetzt sieht sie reizend aus. Das Schönste an ihr ist aber vielleicht ihre Art, sich zu bewegen, alles sprüht von Leben, jeden Schritt scheint sie gerne zu tun: sie quillt über vor Lebensfreude.

Ein Wunder eigentlich, denkt Otto Quangel flüchtig, daß solch eine Trantute wie der Otto, so ein von der Mutter verpimpeltes Söhnchen, sich solch ein Prachtmädel einhandeln konnte. Aber, verbessert er sich gleich, was weiß ich denn vom Otto? Ich habe ihn ja nie richtig gesehen. Er muß ganz anders gewesen sein, wie ich gedacht habe. Und mit den Radios hat er wirklich was losgehabt, die Meister haben sich doch alle um ihn gerissen.

«Tag, Trudel», sagt er und gibt ihr seine Hand, in die rasch und kräftig ihre warme, mollige schlüpft.

«Tag, Vater», antwortet sie. «Nun, was ist los bei euch zu Haus? Hat Muttchen mal wieder Sehnsucht nach mir, oder hat Otto geschrieben? Ich will sehen, daß ich möglichst bald mal bei euch reinschaue.»

«Es muß schon heute abend sein, Trudel», sagt Otto Quangel. «Die Sache ist nämlich die ...»

Aber er spricht seinen Satz nicht zu Ende. Trudel ist in ihrer raschen Art schon in die Tasche der blauen Hose gefahren und hat einen Taschenkalender hervorgeholt, in dem sie jetzt blättert. Sie hört nur mit halbem Ohr zu, nicht der richtige Augenblick, um ihr so was zu sagen. So wartet denn Quangel geduldig, bis sie gefunden hat, was sie sucht.

Diese Zusammenkunft der beiden findet in einem langen, zugigen Gange statt, dessen getünchte Wände ganz vollgepflastert mit Plakaten sind. Unwillkürlich fällt Quangels Blick auf ein Plakat, das schräg hinter Trudel hängt. Er liest ein paar Worte, die fettgedruckte Überschrift: «Im Namen des deutschen Volkes», dann drei Namen und: «wurden wegen Landes-und Hochverrates zum Tode durch den Strang verurteilt. Die Hinrichtung wurde heute morgen in der Strafanstalt Plötzensee voll-zogen.»

Ganz unwillkürlich hat er mit beiden Händen die Trudel gefaßt und sie so weit zur Seite geführt, daß sie nicht mehr vor dem Plakat steht. «Wieso?» hat sie erst überrascht gefragt, dann sind ihre Augen dem Blick der seinen gefolgt, und sie liest auch das Plakat. Sie gibt einen Laut von sich, der alles bedeuten kann: Protest gegen das Gele-sene, Ablehnung von Quangels Tun, Gleichgültigkeit, aber jedenfalls kehrt sie nicht an den alten Platz zurück.

Sie sagt und steckt den Kalender wieder in die Tasche:

«Heute abend geht's unmöglich, Vater, aber morgen werde ich gegen acht bei euch sein.»

«Es muß aber heute abend gehen, Trudel!» widerspricht Otto Quangel. «Es ist Nachricht gekommen über Otto.»

Sein Blick ist noch schärfer geworden, er sieht, wie das Lachen aus ihrem Blick schwindet. «Der Otto ist nämlich gefallen, Trudel!»

Es ist seltsam, derselbe Laut, den Otto Quangel bei dieser Nachricht von sich gegeben hat, kommt jetzt aus Trudels Brust, ein tiefes «Oh ...!» Einen Augenblick sieht sie den Mann mit schwimmenden Augen an, ihre Lippen zittern; dann wendet sie das Gesicht zur Wand, sie lehnt ihre Stirn gegen sie.