Sie weint, aber sie weint lautlos. Quangel sieht wohl ihre Schultern beben, aber er hört keinen Laut.

Tapferes Mädel! denkt er. Wie sie doch am Otto gehangen hat! In seiner Art ist er auch tapfer gewesen, hat nie mit diesen Scheißkerlen mitgemacht, hat sich nicht von der HJ gegen seine Eltern aufhetzen lassen, war immer gegen das Soldatenspielen und gegen den Krieg. Dieser verdammte Krieg!

Er hält inne, erschrocken über das, was er da eben gedacht hat. Verändert er sich nun auch schon? Das war ja eben beinahe so etwas wie Annas «Du und dein Hitler!»

Dann sieht er, daß Trudel mit der Stirn nun grade gegen jenes Plakat lehnt, von dem er sie eben erst fortgezogen hat. Über ihrem Kopf steht in Fettschrift zu lesen: «Im Namen des deutschen Volkes», ihre Stirn verdeckt die Namen der drei Gehängten .

Und wie eine Vision steigt es vor ihm auf, daß eines Tages solch ein Plakat mit den Namen von ihm und Anna und Trudel an den Wänden kleben könnte. Er schüttelt unmutig den Kopf. Er ist ein einfacher Handarbeiter, der nur seine Ruhe haben und nichts von Politik wissen will, Anna kümmert sich nur um ihren Haushalt, und solch ein bildhübsches Mädel wie die Trudel dort wird bald einen neuen Freund gefunden haben .

Aber die Vision ist hartnäckig, sie bleibt. Unsere Namen an der Wand, denkt er, nun völlig verwirrt. Und warum nicht? Am Galgen hängen ist auch nicht schlimmer, als von einer Granate zerrissen zu werden oder am Bauch-schuß krepieren! Das alles ist nicht wichtig. Was allein wichtig ist, das ist das: Ich muß rauskriegen, was das mit dem Hitler ist. Plötzlich sehe ich nur Unterdrückung und Haß und Zwang und Leid, so viel Leid ... Ein paar Tausend, hat dieser feige Spitzel, der Borkhausen, gesagt. Als wenn es auf die Zahl ankäme! Wenn nur ein einziger Mensch ungerecht leidet, und ich kann es ändern, und ich tue es nicht, bloß weil ich feige bin und meine Ruhe zu sehr liebe,

dann .

Hier wagt er nicht, weiterzudenken. Er hat Angst, richtig Angst davor, wohin ihn ein solcher zu Ende gedachter Gedanke führen kann. Sein Leben müßte er dann ändern!

Statt dessen starrt er wieder auf das Mädchen, über dessen Kopf «Im Namen des deutschen Volkes» zu lesen ist.

Nicht grade gegen dieses Plakat gelehnt sollte sie weinen.

Er kann der Versuchung nicht widerstehen, er dreht ihre Schultern von der Wand fort und sagt, so sanft er kann:

«Komm, Trudel, nicht gegen dieses Plakat ...»

Einen Augenblick starrt sie die gedruckten Worte verständnislos an. Ihr Auge ist schon wieder trocken, ihre Schultern beben nicht mehr. Dann kommt Leben in ihren Blick, nicht das alte, frohe Leuchten, mit dem sie diesen Gang betreten, sondern etwas dunkel Glühendes. Sie legt ihre Hand fest und doch zärtlich an die Stelle, wo das Wort

«gehängt» steht. «Ich werd nie vergessen, Vater», sagt sie,

«daß ich grade vor so einem Plakat wegen Otto geheult habe. Vielleicht - ich möcht's nicht -, aber vielleicht wird auch mal mein Name auf so einem Wisch stehen.»

Sie starrt ihn an. Er hat das Gefühl, sie weiß nicht genau, was sie spricht. «Mädel», ruft er. «Besinn dich! Wie sollst du und solch ein Plakat ... Du bist jung, das ganze Leben liegt vor dir. Du wirst wieder lachen, du wirst Kinder haben .»

Sie schüttelt trotzig den Kopf. «Ich krieg keine Kinder, solange ich nicht bestimmt weiß, sie werden mir nicht totgeschossen. Solange irgend so ein General sagen kann: Marschier und krepier! Vater», fährt sie fort und faßt jetzt seine Hand fest in die ihre, «Vater, kannst du denn wirklich wie bisher weiterleben, jetzt, wo sie dir deinen Otto totgeschossen haben?»

Sie sieht ihn eindringlich an, und wieder wehrt er sich gegen das Fremde, das in ihn eindringt. «Die Franzosen», murmelt er.

«Die Franzosen!» ruft sie empört. «Redest du dich auf so was raus? Wer hat denn die Franzosen überfallen? Na, wer, Vater? Sag doch!»

«Aber was können wir denn tun?» wehrt sich Otto Quangel verzweifelt gegen dieses Drängen.