Ich bin wieder katholisch geworden, Herr, obgleich ich von reformierten Eltern stamme. Warum? Weil im Protestantismus ein Prinzip des Aufruhrs auch gegen die politische Autorität liegt.«
»Stellt Eure Pfarrer besser«, warf Semmler behaglich lächelnd ein, »und sie werden als zufriedene und angesehene Leute dem Untertan von der notwendigen Ungleichheit der menschlichen Verhältnisse den richtigen Begriff zu geben wissen.«
Planta lachte etwas höhnisch über diese der bündnerischen Opferwilligkeit gemachte Zumutung. »Um auf den Jungen zurückzukommen«, sagte er dann, »so gehört er auf einen Kriegsgaul, nicht hinter das Kanzelbrett, und würde dort weniger Unheil stiften. Ich hab es dem Alten oft gesagt: Gebt den Burschen mir, es ist schade um ihn! Aber der besegnete sich vor dem spanischen Kriegsdienste, wohin ich den hübschen Jungen empfehlen wollte.«
Semmler nippte bedächtig seinen Wein und schwieg. Er schien den Widerwillen des Scharanserpfarrers gegen die seinem Sohne geöffnete Laufbahn nicht zu mißbilligen.
»Ein Weltkrieg steht bevor«, fuhr Planta leidenschaftlicher fort, »und wer weiß, wie weit es ein so verwegenes Blut bringen könnte! Tollkühn ist der Bursche über alles Maß. Da muß ich Euch doch etwas erzählen, Herr Magister! Im Sommer vor etlichen Jahren – der Junge war noch zu Hause – trieb er sich täglich mit meinem Bruderssohne Rudolf und mit Lucretia auf dem Riedberg herum. Da kommt einmal Lucretia, als ich durch den Garten gehe, im Sturm mit freudeblitzenden Augen auf mich zugelaufen. ›Sieh, sieh, Vater!‹ ruft sie atemlos und deutet in die Höhe zu den Schwalbennestern meines Schloßturmes. Was erblick ich dort, Herr Magister! Ratet einmal ... Den Jürg, der rittlings auf dem äußersten Ende eines weit aus der Dachluke ragenden und sich auf und nieder wiegenden Brettes sitzt. Und der Schlingel schwingt noch den Filz und begrüßt uns mit Jubelgeschrei! Der andere mochte drinnen auf dem sicheren Ende der improvisierten Schaukel hocken, und da Rudolf – ich sag es ungern – ein tückischer Junge ist, graute mir vor dem Wagstück. Ich erhob drohend die Hand und eilte hinauf. Als ich ankam, war alles wieder an Ort und Stelle. Ich faßte Jürg am Kragen, ihm seine Frechheit vorhaltend; er antwortete aber ruhig, Rudolf hätte gemeint, er würde sich dessen nicht getrauen, und das hätte er nicht dürfen auf sich sitzen lassen.«
Semmler, dessen Hände bei dieser Geschichte ängstlich nach den Armlehnen seines Stuhls gegriffen hatten, erlaubte sich nun das in ihm aufsteigende Bedenken auszusprechen, ob der Umgang Lucretias mit so wilden Jungen, vornehmlich mit dem durch eine unübersteigliche, mit der Zeit immer größer werdende Kluft von ihr getrennten Jenatsch, nicht die weibliche Zartheit und adelig feine Sitte des kleinen Fräuleins gefährden könnte.
»Flausen!« rief der Freiherr. »Ihr dürft Euch darüber keine Gedanken machen, daß das Kind dem Jungen nach Zürich nachgelaufen ist. Daran ist niemand als der Rudolf schuld. Er tyrannisiert das Mädchen und ängstigt es damit, daß er es seine kleine Braut nennt. – Er mag wohl derartiges von seinem Vater gehört haben, meinem Bruder wär es nicht unwillkommen, denn ich bin der Reichere; – aber das liegt in weitem Felde. Kurz sie hat den stärkern Jürg, den der andere fürchtet, zu ihrem Beschützer gemacht. – Natürlich Kindereien. – Lucretia kommt nächstens zu adeliger Erziehung ins Kloster und hinter den Mauern wird sie mir sittsam genug werden, denn sie ist nachdenklichen Gemüts. – Was übrigens Eure unübersteiglichen Klüfte betrifft, so meinen wir in Bünden, auch wenn wir es nicht sagen: Das ist Vorurteil. Ehre, Macht und Besitz, versteht sich von selbst, muß haben, wer um eine Planta werben will. Ob es aus Jahrhunderten stamme oder gestern errafft sei, darnach fragen wir zuletzt.« –
Hier verjagte der sausende Sturm die vor dem Blicke des jungen Wanderers gaukelnden Bilder seiner Knabenzeit. Waser war wieder um fünf Jahre älter und schritt rüstig auf dem einsamen Saumpfade des Julier abwärts. Und auf rauhe Weise wurde er in die Gegenwart zurückgeholt. Ein aus der Talöffnung des Engadins aufbrausender Windstoß riß ihm den Hut vom Kopfe, den er mit einem verzweifelten Seitensprunge gerade noch erhaschte, ehe der zweite die leichte Beute dem in der Tiefe strudelnden Wildbache zuwarf.
Drittes Kapitel
Waser drückte seinen Filz tiefer in die Stirn, schnallte sein Ränzchen fester, und sprang, am jetzt steil werdenden Abhange die weiten Windungen des Saumpfades kürzend, eilig abwärts. Erst überschritt er die Wurzeln blitzgeschwärzter, seltsam verdrehter Arvbäume und die harten Rinnen ausgetrockneter Wildbäche, dann trat er weichen Rasen und plötzlich lag das sammetgrüne Engadin geöffnet ihm zu Füßen mit seinen am blitzenden Inn wie ein Geschmeide aufgereihten Bergseen. Aber es war ein letzter Sonnenstrahl zwischen Wolken, der es erhellte und talabwärts in lichter Ferne über dem See und den Weiden von St. Moritz regenbogenfarbig spielte.
Dem Niedersteigenden gegenüber ragte eine kahle dunkle Pyramide empor und daneben talaufwärts ein ebenso hoher mit grünschimmernden Gletschern behangener Grat.
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