Hinter dem Joche, das sie verband, braute sich das Gewitter und drängte seine leise donnernden Wolken durch die Lücke, in der noch zuweilen grell ein entfernteres Schneehaupt auftauchte.

Zur Rechten des Wanderers maskierten die Berge der andern Talwand jene steile Felstreppe, die fast plötzlich durch ein tiefeingeschnittenes Tal aus der leichten Bergluft in die Hitze Italiens hinunterführte. Dort hinter der Maloja quollen, vom Südwinde heraufgejagt, die schwülen Dünste wie ein Nebelrauch hervor über die feuchten Wiesen von Baselgia Maria, dessen weiße Türme hinter einem Regenschleier kaum noch sichtbar waren.

Jetzt erreichte der Saumpfad das erste Engadinerdorf, eine Gasse fester Häuser, die mit ihren Strebepfeilern und vergitterten Fensterluken kleinen Festungen glichen. Aber der junge Zürcher klopfte an keine der schweren Holztüren, sondern beschloß trotz der Dämmerstunde auf der Talstraße längs der Seen rüstig südwärts zu schreiten. Sein Vorsatz war, im Hospiz der Maloja zu nächtigen, um in der Frühe des nächsten Tages über den Murettopaß nach dem Veltlin aufzubrechen; denn – Herr Pompejus hatte es erraten – es verlangte ihn, und jetzt mehr als je, seinen Schulfreund Jenatsch zu umarmen.

Zwischen diesen hohen Bergen war es früh Abend und kühl geworden und der Weg dehnte sich endlos neben den am Gestade plätschernden Wellen. Ein feiner frostiger Nebelregen verhüllte die Gegend und durchdrang nach und nach die Kleider des in gleichmäßigem Schritte vorwärts Eilenden. Eine Schläfrigkeit, wie er sie während der Hitze des Tages nicht gefühlt, fiel auf seine Sinne und Gedanken wie eine leichte Erstarrung. Einmal an einer Stelle, wo der Inn mit raschen Wellen in engem Bette an ihm vorüberschoß und auf dem andern Ufer der stumpfe Turm eines schwerfälligen Kirchleins erschien, glaubte er Pferdegetrappel zu vernehmen. Über die Holzbrücke zu seiner Linken flog ein Reiter, der, nach der Maloja schwenkend, vor ihm herjagte und im Abenddunkel verschwand. War diese in einen Mantel gehüllte Gestalt nicht Herr Pompejus gewesen? Nein, es war ein einzelner scheuer Nachtfahrer, und der Freiherr geleitete und beschützte ja sein Töchterlein, für das er gewiß die sichere Gastfreundschaft seiner Sippe in einem der vornehmen Engadinerdörfer angesprochen hatte.

Endlich, endlich war der letzte See umschritten, trat der letzte Felsvorsprung zurück. Durch den Nebel schimmernder Feuerschein und Hundegebell verkündeten die Nähe eines Hauses, das nur die Paßherberge sein konnte. Waser gewahrte, der dunklen Steinmasse zuschreitend, mit Befriedigung, daß die Pforte der Hofmauer geöffnet war, und sah den Wirt, einen hagern knochigen Italiener, die tobenden Hunde an die Kette legen, wozu ihm der Stalljunge mit einer Pechfackel leuchtete. Das versprach einen gastlichen Empfang. Jetzt ergriff der Wirt die Fackel und hielt sie dem anlangenden Wanderer vors Gesicht.

»Was verlangt der Herr? Womit kann ich dienen?« fragte er in unangenehmer Überraschung einen leisen Fluch, die Äußerung seines ersten Gefühls, unterdrückend.

»Welche Frage!« antwortete Waser in fröhlichem Tone, »Platz an der Feuerstelle, um mich zu trocknen, Abendbrot und Nachtlager.«

»Tut mir leid, Herr – unmöglich!« versetzte der Wirt mit einer sein Bedauern und zugleich seine Unerschütterlichkeit höchst lebhaft ausdrückenden Gebärde, »das Haus ist besetzt.«

»Was, besetzt? Ihr schient ja noch Gäste zu erwarten? Ein Obdach, wie immer beschaffen, könnt Ihr einem Reisenden in dieser Ode und in solcher frostigen Regennacht nicht unchristlich verweigern!«

Der Italiener reckte die Hand aus, gegen Süden weisend, wo der Nebel dünner war und jenseits der Wetterscheide der Maloja über zerrissenen Bergzacken die Mondscheibe durchschimmerte. »Von dorther kommt es besser«, sagte er und holte aus dem Hause einen vollen Becher Wein. »Stärkt Euch damit! Ihr kehrt am klügsten nach Baselgia zurück. Ich wünsche Euch eine gesegnete Nacht.«

Der Trank leuchtete beim Fackelscheine im Glase wie feuriger Rubin. Begierig langte Waser nach dem roten Gefunkel und erquickte sich ohne weitere Gegenvorstellung. Der Wirt drängte ihn höflich und ohne Bezahlung zu verlangen durch die Hofpforte und schob den Riegel.

Der junge Zürcher gab das Spiel noch nicht verloren. Statt einen langweiligen Rückzug auf dem eben durcheilten Wege anzutreten, stieg er, seine Lage bedenkend, den wenige Schritte entfernten Vorsprung hinan, der wie eine Warte hinausragt über das hier mit steilem Abfalle beginnende Bregagliatal, jetzt ein brodelnder Nebelkessel, aus dem mondbeglänzt die Spitzen der zuhöchst am Rande stehenden Tannen auftauchten. Waser spreitete seinen kurzen Mantel aus, setzte sich darauf und lauschte.

Aus dem Stalle der Herberge erscholl von Zeit zu Zeit das Wiehern eines Pferdes – sonst blieb alles still. Das Brausen der Wildbäche aus der Tiefe war, vom Nebel gedämpft, dem Ohre kaum vernehmbar ... Jetzt löste sich von dem fernen Rauschen ein leiser heller Ton ab, ein Geklingel, das nun verwehte – und nun nach einer Pause deutlicher emporstieg. Wieder verklang es und hub von neuem wieder an, diesmal näher und lauter, als kröche es die Bergwand herauf, den Windungen eines Pfades folgend. – Lange horchte Waser wie im Traume diesem lieblich unheimlichen Bergwunder zu; jetzt aber schlug der Ton von Menschenstimmen an sein Ohr. Offenbar waren es Reiter oder Säumer, die ihre Tiere antrieben, und – sein Schluß war rasch gezogen – die vom Wirte erwarteten Gäste.

Er legte sich flach auf die Erde, um nicht sichtbar zu werden. Er wollte wissen, wer ihn seines Nachtlagers beraube. Nach geraumer Zeit erreichten zwei Maultiere die Höhe, zwei Reiter sprangen ab, offenbar Herr und Diener, bestürmten mit einigen harten Schlägen das sofort sich öffnende Tor und wurden vom Wirte diensteifrig in das noch immer erleuchtete Haus geführt.

Unwille und Neugier stachelten den jungen Zürcher. Wie neubelebt sprang er auf und umschlich die geheimnisvolle Festung. Er erinnerte sich des Feuerscheins, der ihm bei der Ankunft entgegengeleuchtet und der nicht von der Hofseite gekommen sein konnte.