Kallocain

Leo Kall, »Mitsoldat« wie alle Bürger des Weltstaats, als Chemiker beschäftigt in der unterirdischen »Chemiestadt Nr. 4«, erfindet ein Präparat, ihm zu Ehren »Kallocain« genannt.

Kallocain ist die beste Wahrheitsdroge, die je entwickelt wurde. Unter ihrem Einfluß gibt jeder Mensch seine innersten Gefühle und persönlichsten Geheimnisse preis – und liefert sich hilflos der totalitären Justiz des Weltstaats als »Gedankenverbrecher« ans Messer.

Aber der Nutzen dieser Droge wird immer zweifelhafter, denn bald erweist sich die ungeheuerliche Tatsache: Jeder ist schuldig! Und es erweist sich, daß der Mensch, gedemütigt und all seiner Freiheit und Würde beraubt, ohne dieses letzte Refugium nicht existieren kann: die Freiheit seiner Gedanken.

 

Es gibt nicht viele skandinavische Utopien von Rang. Das hat Gründe, die in der literarischen Tradition liegen. Es gibt andererseits aber auch kaum Utopien, die von Frauen verfaßt worden sind. Karin Boyes »Kallocain« (1940) nimmt also in doppelter Hinsicht eine Sonderstellung ein.

Man muß »Kallocain« zu den negativen Utopien rechnen, das heißt zu jenen utopischen Werken, in denen sich bedrohliche Entwicklungen der Gegenwart in düsteren, schreckenerregenden Zukunftsvisionen niederschlagen. Das Werk ist in der Nähe von Huxleys Brave New World (1932) und Orwells 1984 (1949) anzusiedeln. Karin Boye hat übrigens einige wesentliche Motive Orwells vorweggenommen.

Prof. Dr. Otto Oberholzer

Nordisches Institut der Universität Kiel

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben

von Dr. Herbert W. Franke

und Wolfgang Jeschke

 

KARIN BOYE

 

 

 

KALLOCAIN

 

 

 

Ein klassischer Science Fiction-Roman

 

 

 

Mit einem Nachwort von

Prof. Dr. Otto Oberholzer

Nordisches Institut der Universität Kiel

 

 

 

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

HEYNE-BUCH

Nr. 3619 im Wilhelm Heyne Verlag, München

 

 

 

 

 

 

Titel der schwedischen Originalausgabe

KALLOCAIN

Deutsche Übersetzung von Helga Clemens

 

Redaktion: Wolfgang Jeschke

Copyright © 1940 by Karin Boye

Copyright © 1947 der deutschen Übersetzung

by Büchergilde BookishMall.com, Zürich

Neuausgabe 1978 mit freundlicher Genehmigung

des Verlages A. Bonniers Förlag AB, Stockholm

und der Büchergilde BookishMall.com, Zürich

Printed in Germany 1978

Umschlagbild: Michael Hasted

Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München

Gesamtherstellung: Mohndruck Reinhard Mohn GmbH, Gütersloh

 

ISBN 3-453-30528-0

 

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Dieses Buch, das ich jetzt zu schreiben beginne, muß vielen sinnlos erscheinen – wenn ich überhaupt wage, mir vorzustellen, daß »viele« es lesen werden –, da ich ja völlig ungeheißen, ohne irgendwelchen Befehl, eine derartige Arbeit unternehme und mir selbst noch nicht recht über ihren Sinn im klaren bin. Ich will und ich muß – das ist alles. Immer unerbittlicher fragt man nach Absicht und Planmäßigkeit in allem, was getan und gesagt wird, so daß nach Möglichkeit kein Wort mehr aufs Geratewohl fallen sollte – nur der Verfasser dieses Buches ist gezwungen, den entgegengesetzten Weg, hinaus ins Ziellose, zu gehen. Denn obwohl meine Jahre hier als Gefangener und Chemiker – es müssen über zwanzig sein, denke ich – voller Arbeit und Hast gewesen sind, muß es etwas geben, das diese Arbeit als ungenügend ansieht, das gelächelt und eine andere Entwicklung in mir erfaßt hat, eine Entwicklung, die ich selbst nicht überblicken konnte und an der ich trotzdem tief, fast schmerzlich interessiert war. Sie wird abgeschlossen sein, wenn ich mein Buch niedergeschrieben haben werde. Ich sehe also ein, wie vernunftwidrig meine Aufzeichnungen sich vor allem rationalen und praktischen Denken ausnehmen müssen, aber ich schreibe trotzdem. Früher hätte ich es vielleicht nicht gewagt. Vielleicht ist es gerade die Gefangenschaft, die mich leichtsinnig gemacht hat. Meine jetzigen Lebensbedingungen unterscheiden sich wenig von denen, unter welchen ich als freier Mensch lebte. Die Kost erwies sich hier als kaum merklich schlechter – daran gewöhnte man sich. Die Pritsche war etwas härter als mein Bett daheim in der Chemiestadt Nr. 4 – daran gewöhnte man sich. Ich kam etwas seltener in die frische Luft hinaus – daran gewöhnte man sich auch. Am schlimmsten war die Trennung von meiner Frau und meinen Kindern, besonders da ich über ihr Schicksal nichts wußte oder weiß; das erfüllte meine ersten Jahre in der Gefangenschaft mit Unruhe und Angst.