Aber mit der Zeit begann ich mich ruhiger zu fühlen als früher und begann sogar Gefallen an meinem Dasein zu finden. Hier brauchte ich mich um nichts zu ängstigen. Ich hatte weder Untergeordnete noch Vorgesetzte – ausgenommen die Gefängniswärter, die meine Arbeit selten störten und nur darum besorgt waren, daß ich mich an die Verordnungen hielt. Ich hatte weder Beschützer noch Rivalen. Die Wissenschaftler, mit denen ich manchmal in Berührung gebracht wurde, um den neuen Versuchen auf dem Gebiet der Chemie folgen zu können, behandelten mich höflich und sachlich, wenn auch meiner fremden Nationalität wegen etwas herablassend. Ich wußte, daß keiner Grund hatte, mich zu beneiden. Kurz: irgendwie konnte ich mich freier fühlen als in der Freiheit selbst. Aber gleichzeitig mit der Ruhe reifte in mir auch dieses wundersame, mit der Vergangenheit eng verkettete Erlebnis – ich sollte wohl sagen: Einsicht, und jetzt werde ich keine Ruhe finden, bevor ich die Erinnerungen an eine bestimmte, inhaltsreiche Zeit meines Lebens niedergeschrieben habe. Die Möglichkeit zum Schreiben ist mir aufgrund meiner wissenschaftlichen Arbeiten gegeben worden, und meine Kontrolle wird erst in dem Augenblick ausgeübt, wenn ich eine fertige Arbeit abliefere. Ich kann mir also dieses einzige Vergnügen leisten, selbst wenn es das letzte sein sollte, zu dem ich Gelegenheit habe.

Zu der Zeit, da meine Erzählung beginnt, näherte ich mich meinem vierzigsten Lebensjahr. Wenn ich mich noch weiter über mich äußern soll, kann ich vielleicht darüber sprechen, wie ich mir das Leben gedacht hatte. Es gibt wenige Dinge, die mehr über einen Menschen sagen als seine Vorstellung vom Leben: ob er es als einen Weg, einen Kampf, einen wachsenden Baum oder ein wogendes Meer ansieht. Was mich anbetrifft, so sah ich es mit den Augen eines braven Schuljungen an, als eine Treppe, die man mit keuchenden Atemzügen und Rivalen an den Fersen von Absatz zu Absatz hinauf eilt. Eigentlich hatte ich nicht viele hinter mir. Die meisten meiner Arbeitskameraden im Laboratorium hatten ihren ganzen Ehrgeiz auf das Militär verlegt und sahen die Tagesarbeit als einen langweiligen, aber notwendigen Unterbruch des abendlichen Militärdienstes an. Ich hingegen hätte kaum einem von ihnen gestehen wollen, wieviel mehr mich meine Chemie als der Militärdienst interessierte, obwohl ich gewiß kein schlechter Soldat war. Jedenfalls jagte ich meine Treppe hinauf. Wie viele Stufen man eigentlich hinter sich bringen mußte, darüber hatte ich nie nachgedacht, auch nicht darüber, was für Herrlichkeiten wohl auf dem Dachboden unser warten könnten. Vielleicht schwebte mir das Bild dieses Hauses unklar vor. Vielleicht als eines unserer gewöhnlichen Stadthäuser, wo man aus dem Innern der Erde immer höher stieg und endlich auf die Dachterrasse in die freie Luft hinaustrat, in Wind und Tageslicht. Was dem Wind und dem Tageslicht in meiner Lebenswanderung entsprechen sollte, war mir nicht klar. Aber sicher war, daß jeder neue Absatz von kurzen offiziellen Mitteilungen der höheren Instanzen bezeichnet war: ein bestandenes Examen, eine gutgeheißene Arbeit, die Versetzung in ein wichtigeres Betätigungsfeld. Ich hatte schon eine ganze Reihe solcher lebenswichtiger Schluß- und Anfangspunkte hinter mir, doch nicht so viele, daß ein neuer bedeutungslos gewesen wäre. Ich kam darum mit einem leichten Fieberschauer im Blut von dem kurzen Telefongespräch zurück, in dem mir mitgeteilt worden war, daß ich am darauffolgenden Tag meinen Kontrollchef erwarten und also mit Menschenmaterial zu experimentieren beginnen könne. Morgen sollte also meine bisher größte Erfindung ihre letzte Feuerprobe bestehen.

Ich war so aufgeregt, daß es mir schwerfiel, in den zehn Minuten, die mir bis zum Arbeitsschluß blieben, noch etwas Neues anzufangen. Unschlüssig stand ich einen Moment herum – ich glaube fast zum erstenmal in meinem Leben – und begann dann langsam und vorsichtig die Apparate vor der Zeit wegzuräumen. Dabei schielte ich durch die Glaswände, um zu sehen, ob mich jemand beobachtete. Sobald das Signal verkündete, daß die Tagesarbeit beendet war, eilte ich durch die langen Gänge des Laboratoriums, einer der ersten im Strom. Hastig duschte ich mich, vertauschte die Arbeitskleider mit der Freizeituniform, sprang in den Paternoster und stand gleich darauf oben auf der Straße. Da unsere Wohnung in meinem Arbeitsdistrikt lag, hatten wir dort eine Tageslichtlizenz, und ich genoß es immer, mich etwas im Freien zu bewegen.

Als ich an der Untergrundbahnstation vorbeikam, fiel mir ein, daß ich auf Linda warten könnte.